Das Hohe Haus
»Jahrhunderthochwasser« in zehn Jahren produziert Déjà-vus: Diesmal sieht man die Kanzlerin in Gummistiefeln, wie ehemals Gerhard Schröder am Oderbruch. Assads Truppen nehmen Al-Kusair ein, in Istanbul organisieren sich Proteste gegen Erdoğan, »Brangelina« sind in Berlin, Jupp Heynckes feiert seinen Abschied von Bayern München. Während der Bundestag eine »Aussprache« angesetzt hat, sagt Thomas de Maizière im Ausschuss zu »Euro Hawk« und Drohnen aus und kündigt eine Erklärung an. Darin wird er Mitarbeiter und Vorgänger belasten.
Als ich um 12 Uhr 50 den Saal betrete, arbeitet Renate Künast still in der ersten Reihe. Die Zuschauertribünen sind bis zum letzten Platz besetzt, die Pressetribünen leer. Zwei Protokollführer lachen, er ein beschlipster Knabe, sie eine Blondine im weißen Blazer. Noch zwei Minuten. Von hinten kommen einzelne Abgeordnete herein. Ein Kameramann filmt schon mal eine Tribüne, auf der gerade nur Alte und Herren im Anzug sitzen.
Renate Künast ( B 90 / DIE GRÜNEN ), im blauen Blazer mit goldenen Knöpfen matrosenhaft wirkend, eröffnet die Aussprache zum Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht mühsam. Sie spricht, als müsse sie sich ihr Rederecht erst erkämpfen, wird auch dauernd unterbrochen, weshalb sie nachdrücklicher wird, erst feststellt, »dass es in diesem Land unheimlich viele Leute mit Migrationshintergrund gibt«, die sich selbstverständlich integrieren. Einen Satz später gibt es »wahnsinnig viele Leute mit Migrationshintergrund in diesem Land, die besser Deutsch sprechen als mancher Deutsche und manche Deutsche«. Mitgerissen von der eigenen Entschiedenheit, nimmt die Rede Fahrt auf, nennt es einen »Irrsinn«, dass »wir« Menschen zu Ausländern in ihrem eigenen Land machen, zitiert »Kulturschaffende« wie »Navid Kermani oder Shermin Langhoff«, Berliner und Deutsche, die sich immer noch ihres Aussehens wegen legitimieren müssen.
Jetzt sackt sie zusammen über ihren gefalteten Händen, dann schwirren die Hände auf und kehren zurück. Sie stellt eine Alternative in den Raum, votiert dafür, dass der »Optionszwang« abgeschafft und Bürger nicht mehr zur Annahme einer einzigen Staatsangehörigkeit genötigt werden dürften. Sie weist mal in die eine, dann in die andere Richtung, verheddert sich in ihren Karten, will »endlich Schluss machen mit einer Politik des erhobenen Zeigefingers«, kommt ohne diesen aber selbst nicht aus, rollt ihre Kärtchen, setzt ein paar Sätze hinzu, nimmt ihr Glas, trinkt im Abgehen und weiß beides zugleich: dass sie Recht hat und dass sie es nicht bekommen wird.
Entsprechend polemisch antwortet ihr der Parlamentarische Staatssekretär Ole Schröder, der Ehemann der Familienministerin, ein alerter Jüngling im Anzug, indem er Künast erst einmal das Vertrauen in den eigenen Antrag abspricht. Anschließend entwirft er großflächig das Horror-Fresko eines Landes, in dem alle eingebürgert werden, »die weder Deutsch lesen noch schreiben können«, »die in Deutschland von Sozialleistungen leben« und an die man hier »die deutsche Staatsbürgerschaft verramschen« wolle. Er spricht fließend Sarrazin. Dann rafft er seine Standpunkte zusammen unter das Dach des Satzes: »Wir haben eine Willkommenskultur« – und haben diese gerade belegt.
Seinen schlechten Ruf verdankt der Politiker auch der Tatsache, dass er, als Massen-Individuum auftretend, wenig von dem hat, was man am Einzelmenschen schätzt. In dieser Hinsicht ist er wie ein Saalpublikum oder ein Fußballstadion. Sowenig er zurückscheut vor Exzessen des Eigenlobs, so wenig blamiert ihn jede denkbare Verunglimpfung des Gegners. Der Abgeordnete ist nicht demaskierbar, auch nicht durch die Wahrheit. Denn solange er seine Funktion für Partei und Fraktion erfüllt, sind rhetorisch fast alle Mittel erlaubt. So entwickeln sich die Abgeordneten allmählich zu Charaktermasken. Wie die handelnden Personen im Kasperletheater erfüllen sie die Auflagen ihrer Rollen-Charaktere: Gretel, Polizist, Teufel, Hanswurst, Krokodil.
Thomas Oppermann ( SPD ) tritt kämpferischer auf als Renate Künast und fragt: »Lieber Herr Schröder, wo immer Sie politisch herkommen (Volker Kauder [ CDU / CSU ]: Aus Deutschland kommt er!), Ihre Rede hat gezeigt: In Europa jedenfalls sind Sie politisch noch nicht angekommen.« Er zählt die Länder auf, die die doppelte Staatsbürgerschaft erlauben, beschwört die Gemeinschaft mit den Immigranten, mit fünfzehn Millionen Menschen, die
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