Das Hohe Haus
im Lande arbeiten, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen und unter fairen Bedingungen Zugang zur vollen Staatsbürgerschaft erhalten sollen, so wie sie durch die doppelte Staatsangehörigkeit ermöglicht würde.
Hartfrid Wolff ( FDP ) reagiert darauf mit monotoner Aggressivität. In der Erregung aber materialisieren sich aus dem Brei der Rede einzelne Gebilde, Kampfbegriffe, die den politischen Gegner meinen, aber den Migranten treffen: »Schaumschlägerei«, »peinlich«, »wohlfeiler Aktionismus«, »aktionistisch«, »ideologisch«. Seine Stimme fällt mehrfach in den Diskant, was angesichts des großen Jungenkörpers wie Stimmbruch wirkt. Das Thema schrumpft zum Vorwand für Positionskämpfe, unter denen sich die Spur der Betroffenen verflüchtigt. Seine Partei sei bereit, »über die vermehrte Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit nachzudenken«, sagt er, als handele es sich um die »vermehrte Hinnahme« von Hochwasser. Auch das nennt er »freiheitlich«, nennt er »Willkommenskultur«.
Wie schmerzhaft der Einbruch der Wirklichkeit in den Hochsicherheitstrakt dieser Kultur sein kann, verrät Sevim Dagdelen ( DIE LINKE ) allein durch den Nachweis, »dass die Mehrstaatigkeit bei nicht türkischen Staatsangehörigen in Deutschland doppelt so häufig akzeptiert« wird »wie bei türkischen Staatsangehörigen«. Die engagierte Rednerin bebildert damit nicht nur den Vorwurf der »Türkenfeindlichkeit dieser Bundesregierung«, sie illustriert auch, wie diese Politik Ministerpräsident Erdoğan die Anhänger zutreibe. Man könnte denken, angesichts der NSU -Morde und der rassistischen Verblendung deutscher Behörden würde diese Debatte behutsamer geführt. Aber die frommen Selbstbezichtigungen und Besserungsversprechen galten im Kokon der Gedenkreden. So wird die türkischstämmige Abgeordnete hier nicht als Sachverständige gesehen, sondern nur als politische Gegnerin.
Hinter ihr demonstriert Eckart von Klaeden, Staatsminister der Bundeskanzlerin und wenige Monate später im Führungspersonal bei Daimler, sein Desinteresse. Seit vierzig Minuten befindet er sich in lachender Zwiesprache mit seinem Nachbarn, kauert sich anschließend zwischen die ersten Plätze der CDU -Bank und sammelt alle Köpfe über sich, kehrt zurück, telefoniert, räkelt sich, versendet Textbotschaften, liest, zeichnet Papiere ab. Eine Stunde ist vorbei, er hat noch keinen Moment bei der Debatte verbracht – für die Türken auf der Tribüne auch eine pantomimische Übersetzung dieser »Willkommenskultur«. Voraussetzung für diese wäre es, zumindest die Existenz derer, die hier klagen, zur Kenntnis zu nehmen.
Mit Reinhard Grindel ( CDU / CSU ) aber wird das Latente des Themas schließlich akut. Er malt am Gespenst der Unterwanderung, weiß von türkischen Mädchen, die nicht auf Klassenfahrten oder zum Sportunterricht dürfen, von »Parallelgesellschaften«, die die unsere gefährdeten, von einer »Wertegemeinschaft« mit EU -Ländern: »Aber von der Türkei sind wir meilenweit entfernt.«
Es geht um die doppelte Staatsbürgerschaft, ans Licht aber kommen Nationen-Klischees, wie sie von der außerparlamentarischen Rechten nicht anders artikuliert werden. Heftige, lautstarke Zwischenrufe sind zu hören, »Blödsinn« ruft jemand, Grindel schwimmt. Zwischenfragen und tumultartige Empörungsbekundungen pariert er hilflos und vielsagend: »Wir sollten uns zumindest gegenseitig ertragen.« Die Meute aber fühlt die Schwäche, lässt nicht ab, und in seiner Angst, die deutsche Staatsbürgerschaft könne durch Fremde entwertet werden, trollt er sich nach patzigem Schlusswort. Jetzt ist das Plenum gut besetzt und muss sich von Daniela Kolbe ( SPD ) vorhalten lassen, »Ressentiments bis hin zum Anklang von Rassismen« produziert zu haben.
In der stockenden Diktion von Memet Kilic ( B 90 / DIE GRÜNEN ) dringt dann noch einmal die Realität in den Saal und konterkariert so manches Gesagte: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, mich hat vor zehn Minuten die Meldung erreicht, dass ein dritter Demonstrant in Istanbul an seinen Kopfverletzungen gestorben ist. Herr Kollege Grindel, es ist nicht angemessen, wenn Sie ein ganzes Volk mit einem breitbeinigen despotischen Islamisten identifizieren und alles über einen Kamm scheren. Täglich gehen in Istanbul über eine Million Menschen auf die Straße. Sie treten ein für ihre Freiheit, für die Werte der Europäischen Union, aber auch für die universellen Menschenrechte. Sie sind bereit,
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