Das Hohelied des Todes
verschrieben. Okay, okay. Und weiter geht’s. Als Earl elf war, wurde die Dosis erhöht.« Decker sah hoch. »Der Junge hat noch mit elf Jahren in die Hose gemacht. Ein Jahr vorher ist die Feuerwehr zum ersten Mal zum Haus der Podes gerufen worden. Ich glaube, der kleine Earl war ein Feuerteufel. Die Seelenklempner haben eben doch recht.«
Er las weiter, runzelte die Stirn und blätterte wieder zum Anfang zurück.
»Was hast du?« fragte Marge.
»Hmm.«
»Was ist?«
»Mit den Verbrennungen an der Hand im Alter von sieben Jahren hörten bei Earl die Mißhandlungen auf«, antwortete Decker nachdenklich. »Aber Dustin muß laut Krankenbericht noch als Teenager mißhandelt worden sein.«
»Du tust ja gerade so, als hätte ihre alte Dame wie ein zurechnungsfähiger Mensch gehandelt«, sagte Mike.
Decker lächelte. »Du hast recht.« Er klappte die Akte zu und klemmte sie sich unter den Arm. »Ich gehe die Unterlagen in der Mittagspause noch mal durch.«
Hennon stand vor dem Röntgenbildbetrachter und verglich kopfschüttelnd die Aufnahmen.
»Eines müssen Sie mir versprechen, Pete.«
»Was denn, Annie?«
»Wenn ich jemals unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden werde, müssen Sie den Fall übernehmen.«
»Ein Versprechen, das ich hoffentlich nie einlösen muß«, schmunzelte er. »Wem gehören denn nun unsere Knochen?«
»Earl.« Sie starrte auf den Bildschirm. »Obwohl sich seine Zähne im Laufe der Zeit noch ein bißchen verschoben haben und er auch ein paar neue Amalgamfüllungen bekommen hat, gibt es genügend Übereinstimmungen. Noch dazu hat er einen sehr charakteristischen Haarriß an einem der mittleren Backenzähne, so daß ich ihn positiv identifizieren kann.«
Sie knipste den Schirm aus und nahm einen Gipsabdruck von Earls Schädel in die Hand. »So gingst du hin denn, armer Pode. Ich kannt’ dich nicht. Aber da hab’ ich wohl auch nicht viel verpaßt.«
Decker lächelte.
»Haben Sie Zeit für einen Kaffee?« fragte sie.
»Danke, aber ich muß Bachman die Aufnahmen noch zurückbringen, bevor er seine Praxis dichtmacht.«
Sie nickte.
»Wie stehen die Aktien mit Ihnen und Ihrer Lady?« Sie schnitt eine Grimasse. »Man will ja nicht neugierig sein …«
»Schon gut. Ich würde sagen …« Er suchte nach den richtigen Worten. »Wir haben eine Abmachung getroffen – eine sehr schöne Abmachung. Sie zieht nach New York.«
»Für immer?« fragte Hennon überrascht.
»Für die nächste Zeit.«
»Und was fangen Sie solange mit sich an?«
»Ich weiß nicht. Es ist noch alles in der Schwebe. Aber manche Ketten sind sehr stabil, auch wenn sie unsichtbar sind.«
Er zuckte mit den Schultern, und sie lächelte ihn warm und offen an. »Sie haben meine Telefonnummer. Wenn Ihnen mal irgendwann abends nach einem Bierchen ist, melden Sie sich bei einem alten Kumpel. Lassen Sie auf jeden Fall wieder von sich hören.«
»Wird gemacht«, sagte Decker.
Hennon hielt ihm den Stapel Röntgenbilder hin. »Viel Glück, Pete.«
Sie gaben sich die Hand. Ihr Händedruck war fest und zuversichtlich.
»Peter!« riefen die Jungen im Chor.
Er schloß sie in die Arme, lächelte Rinas Eltern an und blickte sich suchend um.
»Wo ist eure Ima?« fragte er.
»Sie kauft noch Bücher und ein paar Mitbringsel«, sagte Jake.
Obwohl am Flughafen nicht viel Betrieb herrschte, war die Maschine ziemlich ausgebucht. Vor dem Flugsteig drängten sich schon die Reisenden. Daneben warteten andere, vorwiegend blonde, blauäugige Menschen auf den Aufruf nach Madison, Wisconsin. Die Passagiere nach New York waren ein bunt gemischtes Völkchen – Schwarze, Italiener, Puertoricaner, Iren oder Deutsche und mehrere Juden, die zum Teil nur gestrickte Kippas und normale Straßenkleidung trugen, zum Teil aber auch lange, schwarze Mäntel und schwarze Hüte, Männer mit Schläfenlocken, die Jiddisch sprachen. Decker suchte sich einen Platz und die Jungen setzten sich rechts und links neben ihn.
»Kennt ihr welche von den Männern?« fragte Decker, auf die Juden in Schwarz deutend.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Das sind Chassidim«, sagte Sammy. »Fanatiker!«
Decker lachte, beherrschte sich aber sofort wieder, als er merkte, daß es dem Jungen durchaus ernst war.
»Ich habe euch etwas mitgebracht«, sagte er und griff in eine Papiertüte.
»Was denn?« fragte Jake.
»Zwei Go-Bots. Ich hatte keine Zeit, sie noch schön einzupacken. Der eine ist der Gute, der andere ist der Böse. Ihr könnt selber entscheiden, wer
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