Das Hohelied des Todes
Tür hinter sich zu.
»Ich hätte sie schon längst gefeuert, aber mein Partner hat mehr als nur eine kleine Schwäche für sie. Apropos wahre Liebe, wie steht’s denn mit Ihrer Mehr-oder-weniger-Freundin, Pete?«
»Wie man’s nimmt. Sie hat sich gerade eine Knarre gekauft. Besitzen Sie auch eine Waffe, Annie?«
»Nein. Ich würde mich wahrscheinlich doch nur selbst verstümmeln. Warum hat Ihre Freundin sich eine zugelegt? Aus einem Gefühl der Wehrlosigkeit heraus?«
»Vor ungefähr sechs Monaten wäre sie beinahe von einem Psychopathen vergewaltigt worden. Das hat sie immer noch nicht überwunden. Sie sagt, sie hört nachts Geräusche.«
Sie pfiff durch die Zähne. »Dann hätte ich mir an ihrer Stelle auch eine Waffe gekauft.«
»Ich dachte mir, daß Sie das sagen.«
»Haben Sie ein Bild von ihr dabei?«
»Von Rina?«
»Wenn sie so heißt.«
Decker klappte seine Brieftasche auf und zeigte Hennon ein Foto.
Sie runzelte die Stirn.
»Ist das eine besonders gute Aufnahme von ihr?«
»Weder besonders gut noch besonders schlecht. So sieht sie eben aus.«
Die Zahnärztin gab ihm die Brieftasche zurück.
»Wollen wir zur Sache kommen?« fragte sie.
Decker fragte zurück: »Was hätten Sie denn zu bieten?«
Sie knipste den Röntgenbildbetrachter an.
»Ich bin am Wochenende in der Pathologie gewesen. Ein Dr. Marvin Rothstein hatte mir einen Satz Röntgenbilder geschickt, die mir sehr nach einer unserer Jane Does aussahen. Das hier sind die ursprünglichen Gebißaufnahmen, die ich von Jean gemacht habe – zwanzig Bilder. Vergleichen Sie die mal mit Dr. Rothsteins Bildern.«
Decker schaute sie sich eine Minute an.
»Es gibt Ähnlichkeiten«, sagte sie. »Es ist die gleiche Anzahl von Zähnen, die gleichen Zähne sind behandelt worden, und auch die Zahnzwischenräume sind gleich, nur sieht alles ein bißchen verschoben aus, wie in einem Zerrspiegel auf der Kirmes. Zum Beispiel ist auf dieser rechten Bißflügelaufnahme, die ich von Jean gemacht habe, die Amalgamfüllung zu sehen, oben auf der Kaufläche und an den beiden Seiten des Molars: die typische Füllung für diesen Zahn, die wir MOD nennen. Aus dem Blickwinkel, aus dem ich ihn aufgenommen habe, sieht man einen Streifen Amalgam über die Präparationslinie hinausragen. So etwas nennt man einen Füllungsüberschuß. Er ist hier nur sehr klein. Auf Rothsteins Röntgenaufnahmen ist er überhaupt nicht zu erkennen.«
»Und das heißt?«
»Dazu komme ich gleich. Sehen Sie hier, Pete. Das ist der volle Gebißsatz, den ich am Wochenende von Jean gemacht habe«, sagte sie, nachdem sie einen zweiten Satz Röntgenbilder eingeklemmt hatte. »Jetzt vergleichen Sie die mal mit Dr. Rothsteins Bildern.«
Decker betrachtete die Filme genau.
»Darauf ist der kleine Füllungsüberschuß ebenfalls nicht zu sehen.«
»So ist es. Und sehen Sie auch, wieviel ähnlicher sich die Aufnahmen jetzt sind? Wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe die Röntgenröhre eine Idee weiter nach vorne gekippt. Den Strahl verkürzt. Wenn es bei dem Vergleich von Röntgenbildern um etwas so Wichtiges wie die Identifizierung eines Mordopfers geht, muß man unbedingt darauf achten, ob sie aus dem gleichen Winkel aufgenommen worden sind. Sonst kann man klare Übereinstimmungen leicht übersehen und steht schön dumm da.«
Sie hauchte sich auf die Fingernägel und rieb sie an ihrem weißen Kittel.
»Aber der Knüller kommt erst noch. Ich habe Dr. Rothstein angerufen und mich nach dem Kieferorthopäden seiner Patientin erkundigt. Er heißt Dr. Neiman, und er hat mir ihre Abdrücke geschickt. Vergleichen Sie mal.«
Sie zeigte sie Decker.
»Für mich sehen sie identisch aus.«
»Nicht ganz. Wissen Sie noch? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß die Kleine ihre Spange nicht so oft getragen hat, wie sie sollte. Die Tote hatte keine ganz geraden Zähne. Aber trotzdem habe ich eine Bißplatte von Jeans Zähnen mit einem Abdruck von Dr. Rothsteins Patientin überblendet, und dann habe ich es andersherum noch einmal probiert und die Bißplatte der Patientin mit Jeans Abdruck überblendet. Ein und dieselbe Person.
Darf ich vorstellen, Pete?« sagte sie, auf die Gipsabdrücke zeigend. »Lindsey Bates.«
5
Vor dreieinhalb Monaten, als die Vermißtenanzeige aufgegeben worden war, war Lindsey Bates sechzehn Jahre und zwei Monate alt gewesen, einen Meter sechzig groß, hundertacht Pfund schwer, blauäugig, blond – ein hübscher amerikanischer Teenager, der zum Fressen für die Geier
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