Das Hohelied des Todes
weinen.
Marge legte den Notizblock weg. »Vielleicht ist es doch noch zu früh für eine Befragung. Wir wollen Sie nicht drängen. Aber mit jeder Sekunde, die wir verlieren, bekommt der Mörder Ihrer Tochter einen größeren Vorsprung. Wenn es Sie zu sehr quält, können wir auch morgen wiederkommen.«
Mrs. Bates trocknete sich die Tränen ab und schüttelte den Kopf.
»Es geht schon wieder.«
»Bestimmt?«
»Ja«, sagte Mrs. Bates. »Wo war ich stehen geblieben?«
»Es war an einem Samstag«, antwortete Marge und griff nach ihrem Notizblock.
»Ja, an einem Samstag«, wiederholte Mrs. Bates. »Lindsey wollte in die Galleria einkaufen gehen, sie brauchte eine neue Bluse … Sie hatte gerade ihren Führerschein gemacht, und bis zum Einkaufszentrum ist es auch nicht weit.« Sie hob hilflos die Hände. »Was kann ich noch sagen? Seit dem Tag hat niemand mehr etwas von ihr gehört … bis heute nicht.«
»Wissen Sie, ob sie eine Verabredung hatte?« fragte Marge.
»Genau die gleiche Frage hat mir der Detective damals auch gestellt. Lesen Sie die Berichte Ihrer Kollegen denn nicht?«
»Ich möchte bloß nichts übersehen«, erklärte Marge.
Die Frau sank tiefer in ihren Sessel. »Ich muß mich für mein Benehmen entschuldigen …«
»Nein, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie machen Ihre Sache sehr gut.«
»Soweit ich weiß«, sagte Mrs. Bates, »war sie nicht verabredet. Ich kann Ihnen eine Liste ihrer Freunde geben, und Sie können sich bei ihnen erkundigen, ob Lindsey mit ihnen telefoniert hat.«
»Danke. Das würde uns sehr weiterhelfen.« Marge fuhr fort: »Wissen Sie, in welchen Geschäften Ihre Tochter für gewöhnlich eingekauft hat?«
»Bullocks, Broadway, May Company, Robinson’s. Sie ging auch gern zu Contempo, obwohl ich den Laden immer für etwas überteuert gehalten habe.«
»Hat sie immer die gleiche Route genommen, wenn sie einkaufen ging? Hat sie den Wagen an derselben Stelle geparkt? Hat sie die Geschäfte in der gleichen Reihenfolge abgeklappert?«
»Soweit ich weiß, nicht. Das könnten Ihnen ihre Freundinnen besser sagen.« Sie machte ein trauriges Gesicht. »Früher sind wir immer zusammen einkaufen gegangen … Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind … Sie ziehen am liebsten mit Freunden los. Lindsey hat meinen modischen Geschmack sehr geschätzt. Wir wurden oft für Schwestern gehalten.«
Marge konnte sich das kaum vorstellen. Aber wahrscheinlich war die Frau seit dem Verschwinden ihrer Tochter um zehn Jahre gealtert. Sie warf einen Blick in die Unterlagen, die Decker ihr gegeben hatte.
»Lindsey hat noch eine jüngere Schwester?«
»Ja.«
»Sind die beiden gut miteinander ausgekommen?«
»Ja«, antwortete sie mit einem defensiven Unterton in der Stimme. »In unserer Familie stehen wir uns alle sehr nahe.«
»Sie ist jetzt in der Schule?«
»Ja. Erin ist in der Schule.« Sie klang fast, als ob sie sich Mut machen müßte.
»Mit ihr hätte ich auch noch gern gesprochen.«
Der Blick der Frau verfinsterte sich.
»Warum? Glauben Sie etwa, die Mädchen hätten Geheimnisse vor mir gehabt?«
»Reine Routine, Mrs. Bates. Das können Sie mir glauben.«
Mrs. Bates biß sich auf die Lippe.
»Wenn es unbedingt sein muß.«
Marge nickte.
»Die Mädchen sind … waren sehr unterschiedlich«, murmelte Mrs. Bates.
»Inwiefern?«
»Ich komme … Ich bin besser mit Lindsey ausgekommen. Wir hatten mehr gemeinsame Interessen. Sie war ein allerliebstes Kind, Detective. So lieb und hübsch.«
»Und Erin?« soufflierte Marge.
»Erin ist eher eine Eigenbrötlerin. Aber sie ist auch ein sehr liebes Mädchen.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Marge. »Die Polizei aus Glendale hat Lindseys Freunde befragt. Anscheinend hatte sie einen ziemlich großen Bekanntenkreis.«
»Was soll ich dazu sagen, Detective? Sie war eben sehr beliebt.«
»Kennen Sie ihre Freunde?«
»Ja. Sie haben sich immer bei uns getroffen.« Wieder stiegen Mrs. Bates Tränen in die Augen. »Der ganze Trubel fehlt mir jetzt richtig.«
»Hatte Lindsey einen festen Freund?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Vater und ich wollten nicht, daß sie sich zu früh bindet. Ein sechzehnjähriges Mädchen braucht keinen unreifen Jungen, der an ihr klebt und sie ganz für sich allein haben will. So etwas bringt nur Unheil.«
Sie schien die tragische Ironie in ihren Worten nicht zu bemerken, und Marge redete schnell weiter, damit es so blieb.
»Aber sie ist mit Jungen ausgegangen?«
»Sie ist mit ihrer
Weitere Kostenlose Bücher