Das Hohelied des Todes
Gepisse. Nachdem er die vier Stockwerke abgeklappert hatte, vernebelte ihm die Erschöpfung langsam den Blick.
Er würde sein Glück in der nächsten Woche noch einmal versuchen. Bis dahin gab es sicher ein paar Neuzugänge, und auch der eine oder andere Veteran war dann bestimmt zur Herde zurückgekehrt. Er steckte das Foto ein und machte sich auf den Weg zum Ausgang, aber plötzlich blieb er stehen. Er konnte nicht anders – er war wie gelähmt, seine Wadenmuskeln wie erstarrt.
Nach Luft schnappend starrte er sie an. Ein Mondstrahl fiel ihr genau ins Gesicht und tauchte sie in tödliche Grautöne.
Die orange geschminkten Lippen des Mädchens waren weit geöffnet, die Augen matt und groß. Alles paßte, sogar der Ansatz der Wangenknochen, die Kinnspitze. Aber es waren die Haare, die flammend roten Fransen um das blasse, sommersprossige Gesicht, die ihm das Herz hämmern ließen.
Cindy!
Sie trug ein grünes, paillettenbesetztes Oberteil und einen orangeroten Minirock. Sie fing Deckers Blick auf und senkte die Lider. Als er sich nicht rührte, schnitt sie ein komisches Gesicht, wiegte sich in den Hüften, löste die Träger ihres rückenfreien Oberteils und ließ ihn ihre üppigen Brüste sehen. Sie nahm eine in jede Hand, kniff die rosa Brustwarzen zusammen und schob sich langsam, verführerisch an ihn heran.
»Fünfundzwanzig Dollar«, flüsterte sie.
Er hätte sie am liebsten umgebracht.
Blind vor irrationaler Wut wollte Decker sie stehen lassen, aber sie hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um, warf sie gegen die Wand und schlug ihr mit aller Kraft ins Gesicht, daß ihm selbst die Hand brannte. Dann packte er sie bei den Handgelenken.
»Ich bin ein Bulle, du blödes Miststück!«
Sie wurde zum Tier. Sie riß den Mund auf, fauchte und biß ihn durch den Ärmel in den rechten Unterarm. Mit einem Aufschrei ließ er sie los, aber sie war nicht mehr zu bändigen. Sie kratzte, schlug nach ihm und zerriß ihm die Jacke. Es gelang ihm zwar, mit dem nackten Arm sein Gesicht zu schützen, aber sie attackierte ihn weiter und riß ihm den Unterarm mit den Nägeln auf. Verzweifelt gab er ihr eine schallende Ohrfeige, die sie durch den Korridor fliegen und gegen eine Wand knallen ließ.
O Scheiße, dachte er.
Er wollte zu ihr, doch sie rappelte sich hoch und rannte weg.
Sein Arm war naß und rot und zitterte. Decker suchte vergeblich nach einem Taschentuch und mußte sich, so gut es ging, mit der Jacke behelfen, um die Blutung zu stillen.
Du Vollidiot, dachte er. Dich von einer doofen Nutte so fertigmachen zu lassen. Deine Tochter ist ein anständiges Mädchen. Wieso suchst du Ärger, wo es überhaupt keinen gibt?
Er schob die durchgeweichte Jacke ein Stück hoch. Der Arm blutete zwar noch, aber der rote Strom war bis auf ein dünnes Rinnsal versiegt. Das Fleisch war angeschwollen, es pochte. Er mußte hier raus.
Er sah sie aus dem Augenwinkel und hatte das Gefühl, daß er etwas sagen müßte, aber er brachte nichts heraus. Schließlich kam sie auf ihn zu und hielt ihm eine Rolle Verbandsmull hin. Er nahm sie mit einem dankbaren Kopfnicken und verband die Wunden.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er.
Sie nickte.
»Bestimmt?«
»Bestimmt.«
»Tut mir leid, daß ich so fest zugeschlagen habe«, sagte er. »Ich wollte Sie mir bloß vom Leib halten.«
»Und mir tut es leid, daß ich so fest zugebissen habe«, sagte sie.
»Ich wollte Sie mir auch bloß vom Leib halten. Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
»Gibt es hier irgendwo eine Nachtapotheke?« fragte er.
»Keine Ahnung.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Verhaften Sie mich jetzt?«
»Nein.«
»Sind Sie wirklich ein Bulle?«
»Ja.«
»Was suchen Sie hier?«
Er holte Lindseys Foto heraus. Vorsichtig kam die Rothaarige ein paar Schritte näher, um es sich anzusehen.
»Die kenne ich nicht«, sagte sie. »Wie lange wird sie schon vermißt?«
»Sie wird nicht vermißt. Sie ist tot.«
Das Mädchen fröstelte. Decker sah, daß sich ein dunkelroter Handabdruck auf ihrem Gesicht abzeichnete.
»Ich habe Sie wirklich ziemlich fest geschlagen«, sagte er. »Haben Sie sich auch bestimmt nichts getan?«
»Soll das ein Witz sein?« meinte sie achselzuckend. »Mann, für die meisten Freier, die ich bediene, ist so was doch bloß das Aufwärmtraining.«
Decker schüttelte den Kopf, die Freier und er selbst widerten ihn an.
»Warum haben Sie mich vorhin so angeglotzt?«
»Sie erinnern mich an meine Tochter.«
Ratternd wie ein Maschinengewehr
Weitere Kostenlose Bücher