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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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daran, denn sie sangen im Chor: »Der arme Teufel starb im Lazarett« und ließen sich durch nichts davon abbringen. Es folgte ein bescheidenes Mahl im Speiseraum unter dem Dach des Ärztehauses, und zu guter Letzt versuchte Pajpak, eine patriotische Rede vom Stapel zu lassen, die ihm jedoch mißriet. Das alte Männlein mit seinem verneinenden Zucken löste sich über seinem Schnapsglas in Tränen auf, kippte den Kümmel über das Tischtuch und setzte sich schließlich zu allgemeiner Zufriedenheit wieder hin.

DOCTOR ANGELICUS
    E IN GANZES Netz von Intrigen durchzog das Sanatorium. Diskret eingefädelt, lauerten sie nur auf den ersten unsicheren Tritt des Debütanten. Irgend jemand war darauf erpicht, Pajączkowski hinauszudrängen, setzte Falschmeldungen von einer baldigen Ablösung des Leiters in Umlauf und freute sich über jeden Fehler, der anderen unterlief; Stefan jedoch, gebannt wie vor einem Aquarium in die Betrachtung der verkrüppelten Psychen versunken, hatte gar nicht die Muße, diese Dinge genau zu verfolgen.
    Er suchte Sekulowskis Gesellschaft. Sie gingen stets zufrieden auseinander, obgleich es Stefan unangenehm berührte, daß sich der Dichter so wohl fühlte mit seiner Idee von den gespenstischen Abgründen, zu denen er verurteilt sei. Sekulowski hingegen behandelte ihn nur als »Sparringspartner« in der Überzeugung, sein Geist sei absoluter Maßstab aller Dinge.
    Die ersten Nachrichten von Razzien in Warschau und Gerüchte, daß in nächster Zeit Ghettos eingerichtet werden sollten, erreichten das Sanatorium. Allerdings schienen sie nebelhaft und unglaubwürdig, filtriert durch die Mauern des Krankenhauses. Viele ehemalige Soldaten, die bei den Kampfhandlungen im September ihr seelisches Gleichgewicht verloren hatten, verließen nun die Anstalt. So wurde wieder Platz geschaffen, denn auf mehreren Stationen hatten die Patienten zu zweit oder gar zu dritt in einem Bett schlafen müssen.
    Dafür wuchsen die Schwierigkeiten in der Versorgung, der Mangel an Medikamenten machte sich bemerkbar. Pajączkowski erließ nach einigem Zögern die Anweisung, größte Sparsamkeit zu üben. Skopolamin, Morphium,Barbiturate und sogar Brom kamen unter Verschluß. Das Insulin für die Schocks ersetzte man durch Cardiazol, und von den Restbeständen an Insulin wurden nur sehr spärliche Mengen herausgegeben. Die Anstaltsklinik geriet ins Wanken; aus ihren unsteten Zahlenkolonnen ging zwar nicht unbedingt eine Veränderung im Gemeinwesen der Geisteskranken hervor, einige Rubriken aber schmolzen dahin, andere wieder schwankten oder blieben auf dem gleichen Stande; es war eine Periode der Unentschlossenheit.
    Der April kam ins Land. Es gab Tage, da heller Regen auf grüne Fluren herabrauschte, und dann wieder Tage, die dem Dezember entliehen schienen, so unwirtlich fegte der Schnee daher. An einem Sonntag stand Stefan früher auf als üblich, von einem aberwitzigen Sonnenstrahl geweckt, der seinen Schlummer durch die geschlossenen Lider mit sattem Purpur gefärbt hatte. Er sah zum Fenster hinaus. Welch ein Anblick! Es war, als fertigte ein großer Künstler mit breiten Pinselstrichen Skizzen zu ein und demselben Gemälde an und als hielte er auf jedem Entwurf eine neue Farbe und neue Einzelheiten fest. Zwischen den Hügeln, die friedvoll wie die Buckel schlafender Tiere ruhten, zogen wollige Nebelschwaden dahin, die schwarzen Striche der Äste verhüllend. Und als hätte der Pinsel mitten in der Bewegung innegehalten, hoben sich hie und da unter dem Nebel ungleichmäßige, scharfumrissene Flecke dunkel ab. Dann stahl sich von oben etwas Gold in das Weiß; brodelnde, perlende Strudel entstanden, bis der Nebelschleier schließlich den Horizont erreichte und, sich verdünnend, niedersank. Aus dem berstenden Gewölk blitzte der Tag, glänzend wie eine blanke Kastanie.
    Stefan brach auf zum Spaziergang. Bald ließ er die Straße hinter sich. Jedes Fleckchen Erde war von Grün bedeckt, das üppig in den Gräben wallte, unter Steinenhervorsproß; die Knospen sprangen, zartgrüne Laubwölkchen umhüllten die fernen Bäume. Stefan stieg schräg einen Abhang hinan, wo ihm in breiter Front ein warmer Wind entgegenblies. Oben auf dem Gipfel raschelte noch das dürre Gras aus dem Vorjahr. Ringsum verliefen kreisförmig die Ackerstreifen wie ein speckiger Weidmannsgürtel. An allen Halmen glitzerten blaue und weiße Wassertropfen, die winzige Weltbilder in sich bargen. Der Wald in der Ferne, quer zum Horizont, war wie aus Silber

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