Das Hotel New Hampshire
bescheuerter als die Nutten. Ich glaube, nach dem Tod meiner Mutter fühlte sich mein Vater vertraut mit dem Durcheinander von Begierde und Einsamkeit; vielleicht war er sogar dankbar für »das Geschäft« - wie die Nutten ihre Arbeit nannten.
Weniger wohlwollend sah er die Weltveränderer, die Idealisten, die entschlossen waren, die unerfreulichen Seiten der menschlichen Natur zu ändern. Heute überrascht mich das, da ich Vater bloß als eine andere Art Idealisten ansehe - aber Vater war natürlich eher entschlossen, Unerfreuliches durchzustehen, als es zu ändern. Daß mein Vater nie richtig Deutsch lernte, isolierte ihn zusätzlich von den Radikalen; mit ihnen verglichen, sprachen die Nutten das bessere Englisch.
Der Alte Billig kannte einen einzigen Satz auf englisch. Er machte sich einen Spaß daraus, Lilly zu kitzeln oder ihr einen Lutscher zu geben und sie gleichzeitig mit einem liebevollen »Yankee go home!« zu necken.
»Ein reizender alter Furzer«, sagte Franny. Frank wollte dem Alten Billig einen zweiten englischen Ausdruck beibringen, der, wie Frank meinte, nach Billigs Geschmack war.
»Imperialist dog«, sagte Frank ihm vor, aber Billig verwechselte das immer mit »Nazi swine«, und es gab ein hoffnungsloses Durcheinander.
Die Radikale mit den besten Englischkenntnissen benützte den Decknamen Fehlgeburt. Frank erklärte mir, daß Fehlgeburt das deutsche Wort für »miscarriage« war.
Fräulein Fehlgeburt, wie die anderen sie nannten - Miss Miscarriage hieß sie bei uns Kindern -, war nie schwanger gewesen und hatte deshalb auch nie eine Fehlgeburt gehabt; sie war eine Studentin, deren Deckname deshalb ›Fehlgeburt‹ lautete, weil die einzige andere Frau im Stab des Symposions über Ost-West-Beziehungen den Decknamen ›Schwanger‹ hatte. Sie war es schon gewesen. Fräulein Schwanger war eine ältere Frau, in Vaters Alter, die in Wiener Radikalenkreisen wegen einer vergangenen Schwangerschaft berühmt war. Sie hatte ein ganzes Buch über das Schwangersein geschrieben, und danach noch ein zweites - eine Art Fortsetzung - über das Abtreiben. Zu Beginn ihrer Schwangerschaft hatte sie sich ein leuchtend rotes Plakat umgehängt und bekanntgegeben, daß sie schwanger war. Schwanger! stand auf ihrer Brust, und darunter mit gleich großen Buchstaben die Frage: »BIST DU der Vater?« Das hatte auch einen sensationellen Buchumschlag abgegeben, und sie hatte ihr ganzes Honorar für verschiedene radikale Vorhaben gespendet. Durch die anschließende Abtreibung - und das Buch - war sie zu einem beliebten Gegenstand von Kontroversen geworden; als Rednerin zog sie immer noch eine Menge Zuhörer an, und was Vortragshonorare betraf, so war sie immer noch die loyale Spenderin. Schwangers Abtreibungsbuch - dessen Veröffentlichung 1955 mit dem Ende der Besatzungszeit zusammenfiel - hatte das Ausstoßen dieses unerwünschten Kindes zu einem Symbol für die Befreiung Österreichs von den Besatzungsmächten gemacht. »Der Vater«, schrieb Schwanger, »hätte ein Russe, Franzose, Brite oder Amerikaner sein können; für mich - für meinen Körper und für mein geistiges Empfinden - war er jedenfalls ein unerwünschter Fremder.«
Schwanger stand Susie dem Bären nahe; die beiden teilten eine große Zahl von Vergewaltigungstheorien. Schwanger freundete sich aber auch mit meinem Vater an; bei ihr fand er - nach dem Verlust meiner Mutter - offenbar am ehesten Trost, nicht weil zwischen ihnen »etwas gewesen« wäre (wie man so sagt), sondern weil ihre ruhige Stimme - mit dem gleichmäßigen, sanften Tonfall - von all den Stimmen im Gasthaus Freud der meiner Mutter am nächsten kam. Schwanger überzeugte einen mit ihrer Sanftheit - wie meine Mutter. »Ich bin nur Realistin«, sagte sie auf ihre besondere Art, ganz unschuldig - obwohl ihre Hoffnungen, reinen Tisch machen und noch einmal bei Null anfangen und eine neue Welt aufbauen zu können, so glühend waren wie die Brandstifterträume der anderen Radikalen.
Schwanger nahm uns Kinder jeden Tag ein paarmal mit zu Kaffee mit Milch und Zimt und Schlagrahm, ins Cafe Europa an der Kärntner Straße - oder ins Cafe Mozart am Albertinaplatz 2, gleich hinter der Staatsoper. »Nur damit ihr's wißt«, sagte Frank später, immer und immer wieder, »Der Dritte Mann wurde im Cafe Mozart gefilmt«. Schwanger interessierte das nicht im geringsten; es war der Schlagrahm, der sie vom Klappern der Schreibmaschinen und von der Hitze der Debatten vertrieb; es war die Stille im
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