Das Hotel New Hampshire
bei der mir das Reden am schwersten fiel, nicht weil sie am gröbsten war, sondern weil ich vor ihr am meisten Angst hatte.
»Woran erkennt man eine polnische Hure?« fragte sie mich. Ich mußte Frank um eine Übersetzung bitten. »Sie zahlt dafür, daß man sie fickt«, sagte Jolanta. Das verstand ich auch ohne Franks Hilfe.
»Hast du das verstanden?« fragte mich Frank.
»Herrgott, Frank, natürlich«, sagte ich.
»Dann lach auch«, sagte Frank. »Es ist wohl besser, du lachst.« Und ich blickte auf Jolantas Hände - sie hatte die Handgelenke eines Bauern, die Knöchel eines Boxers - und lachte.
Die Dunkle Inge lachte kaum. Sie hatte ein höchst unglückliches Leben hinter sich. Vor allem aber hatte sie noch nicht sehr viel von ihrem Leben hinter sich; sie war erst elf. Als Mulattin - mit einer österreichischen Mutter und einem schwarzen amerikanischen G.I. als Vater - war sie zu Beginn der Besatzungszeit geboren worden. Ihr Vater war 1955 mit den Besatzungsmächten abgezogen, und nichts von dem, was er Inge oder ihrer Mutter über die Behandlung der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten erzählt hatte, hatte den Wunsch in ihnen geweckt, mit ihm zu gehen. Die Dunkle Inge sprach das beste Englisch unter den Nutten, und als Vater nach Frankreich reiste - um Mutter und Egg zu identifizieren -, verbrachten wir unsere schlaflosen Nächte größtenteils mit der Dunklen Inge. Sie war so groß wie ich, obwohl sie erst in Lillys Alter war, und mit den Kleidern, die sie ihr anzogen, sah sie so alt aus wie Franny. Die geschmeidige, hübsche, mokkafarbene Dunkle Inge arbeitete als eine Art Lockvogel; sie war keine richtige Nutte.
Sie durfte nicht auf die Krugerstraße, ohne daß eine andere Nutte sie begleitete, es sei denn, Susie der Bär war bei ihr; wenn ein Mann sie haben wollte, wurde ihm gesagt, er könne sie nur ansehen - und sich selber befingern. Die Dunkle Inge war noch nicht alt genug, um befingert zu werden, und so durfte kein Mann mit ihr allein in einem Zimmer bleiben. Wenn ein Mann mit ihr zusammen sein wollte, leistete ihnen Susie der Bär Gesellschaft. Es war ein einfaches System, aber es funktionierte. Wenn ein Mann den Eindruck erweckte, als wolle er die Dunkle Inge befingern, kündigte Susie der Bär mit den entsprechenden Lauten und Gesten eine Attacke an. Wenn der Mann von der Dunklen Inge verlangte, daß sie sich zu weit auszog, oder wenn er darauf bestand, daß sie ihn ansah, während er masturbierte, dann wurde Susie der Bär unruhig. »Sie reizen den Bären«, warnte die Dunkle Inge dann den Mann, und der verdrückte sich - oder aber er masturbierte schnell zu Ende, während die Dunkle Inge in die andere Richtung blickte.
Die Nutten wußten alle, daß Susie der Bär innerhalb von Sekunden in ihrem Zimmer sein konnte. Sie brauchten nicht mehr zu tun, als einen Hilfeschrei auszustoßen, denn Susie kannte - wie es sich für ein gut dressiertes Tier gehört - alle ihre Stimmen, Babette mit ihrem nasalen kurzen Aufschrei, Jolanta mit ihrem heftigen Gebrüll, die Alte Billig mit ihren zersplitternden »Andenken«. Aber die schlimmsten Kunden waren für uns Kinder die verschämten Männer, die mit ein paar unergiebigen Blicken auf die Dunkle Inge masturbierten.
»Ich glaube, mit einem Bären im Zimmer könnte ich nicht wichsen«, sagte Frank.
»Ich glaube, mit Susie im Zimmer könntest du nicht wichsen, Frank«, sagte Franny.
Lilly schauderte, und ich machte es ihr nach. Mit Vater in Frankreich - bei diesen leblosen Körpern, die uns soviel bedeuteten - betrachteten wir die körperlichen Vorgänge im Gasthaus Freud mit jener Distanz, die Trauernden eigen ist.
»Wenn ich alt genug bin«, erzählte uns die Dunkle Inge, »kann ich den Preis für die ganze Sache verlangen.« Es überraschte uns Kinder, daß man für »die ganze Sache« mehr zahlte, als wenn man in Gegenwart der Dunklen Inge wichste.
Die Mutter der Dunklen Inge hatte die Absicht, Inge aus dem Geschäft rauszuhaben, wenn ihre Tochter erst »alt genug« war. Die Mutter der Dunklen Inge hatte vor, ihre Tochter aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie mündig wurde. Die Mutter der Dunklen Inge war die fünfte Königin der Nacht im Gasthaus Freud - Kreisch-Annie. Sie scheffelte mehr Geld als all die anderen Nutten in der Krugerstraße, denn sie arbeitete für einen ehrbaren Ruhestand (für ihre Tochter und für sich).
Wenn man eine zarte Blume oder ein wenig Französisch wollte, dann verlangte man Babette. Wenn man Erfahrung zu
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