Das Hotel New Hampshire
wieder.
»Das bezweifle ich«, sagte Franny leise. »Ich mag Susie einfach, glaube ich.«
Ich dachte natürlich, wenn Frank schon wußte, daß er homosexuell war, und nun auch noch Franny etwas mit Susie dem Bären hatte, dann war es möglicherweise nur eine Frage der Zeit, bis auch Lilly und ich ähnliche Neigungen entdeckten. Aber Franny las, wie so oft, meine Gedanken.
»So ist das bei mir nicht«, flüsterte sie. »Frank ist überzeugt. Ich bin von gar nichts überzeugt - höchstens davon, daß es so vielleicht leichter ist für mich. Im Augenblick jedenfalls. Ich meine, es ist leichter, jemanden zu lieben, der das gleiche Geschlecht hat. Da ist nicht ganz so viel, zu dem man sich verpflichtet, man muß nicht so viel riskieren«, sagte sie. »Bei Susie fühle ich mich sicherer«, flüsterte sie. »Das ist alles, glaube ich. Die Männer sind so anders«, sagte Franny.
»Eine Phase«, sagte Ernst immer - zu allem.
Während Fehlgeburt, ermutigt durch unser aller Reaktion auf Der große Gatsby, uns Moby-Dick vorzulesen begann. Nach dem, was Mutter und Egg zugestoßen war, war es nicht leicht für uns, so viel über das Meer zu hören, aber wir kamen darüber hinweg; wir konzentrierten uns auf den Wal, vor allem auf die verschiedenen Harpuniere (jeder von uns hatte einen, den er besonders mochte), und wir behielten Lilly scharf im Auge und warteten nur darauf, daß sie Vater mit Ahab identifizierte - »oder vielleicht stellt sie auch fest, daß Frank der weiße Wal ist«, flüsterte Franny. Doch dann war es Freud, den Lilly für uns identifizierte.
Eines Abends - die Schneiderpuppe stand in Habachtstellung, und Fehlgeburt klang eintönig wie die See, wie die Brandung - sagte Lilly: »Hört ihr ihn? Pssst!«
»Was?« sagte Frank gespenstisch - Eggs Frage, wie wir alle wußten.
»Laß den Quatsch, Lilly«, flüsterte Franny.
»Nein, hör doch«, sagte Lilly. Und einen Augenblick lang dachten wir, wir lägen unter Deck in unseren Kojen und hörten über uns Ahabs künstliches Bein ruhelos auf und ab schreiten. Abwechselnd ein hölzerner Schlag und ein knochendumpfes Aufstampfen. Es war nur Freuds Baseballschläger; in dem Stockwerk über uns ging er hinkend seinen blinden Weg - er besuchte eine der Huren.
»Zu welcher geht er?« fragte ich.
»Zur Alten Billig«, sagte Susie der Bär.
»Das Alter unter sich«, sagte Franny.
»Ich finde es irgendwie süß«, sagte Lilly.
»Ich meine, heute ist es die Alte Billig«, sagte Susie der Bär. »Er muß müde sein.«
»Er tut es mit allen?« sagte Frank.
»Mit Jolanta nicht«, sagte Susie. »Sie macht ihm angst.«
»Sie macht mir angst«, sagte ich.
»Und die Dunkle Inge besucht er natürlich auch nicht«, sagte Susie. »Freud kann sie nicht sehen.«
Ich kam gar nicht auf die Idee, eine der Nutten - oder gar sie alle - zu besuchen. Bei Ronda Ray war das etwas anderes gewesen. Bei Ronda Ray war es einfach Sex, der seinen Preis hatte; in Wien war der Sex ein Geschäft. Ich konnte zu meinem Phantasiebild von Jolanta onanieren; das war erregend genug. Und was die Liebe anging ... nun, für die Liebe blieb mir immer mein Phantasiebild von Franny. Und an den langen Sommerabenden war da auch noch Fehlgeburt. Da Moby-Dick so ein Monstrum von einem Leseerlebnis war, hatte Fehlgeburt es sich angewöhnt, abends länger zu bleiben. Frank und ich begleiteten sie dann immer nach Hause. Sie hatte ein Zimmer in einem heruntergekommenen Gebäude hinter dem Rathaus, in der Nähe der Universität, und sie ging bei Nacht nicht gern über die Kärntner Straße oder den Graben, weil sie manchmal mit einer Hure verwechselt wurde.
Wer Fehlgeburt mit einer Hure verwechselte, mußte schon sehr viel Phantasie haben; sie war so offensichtlich eine Studentin. Nicht daß sie nicht hübsch gewesen wäre; es war nur offensichtlich, daß Hübschsein sie nicht interessierte. Was an ihr ansehnlich war - und sie war ansehnlich -, das verdrängte oder vernachlässigte sie. Ihre Haare standen in alle Richtungen; selbst wenn sie mal frisch gewaschen waren, wirkten sie einfach ungepflegt. Sie trug Blue jeans und einen Rollkragenpullover oder ein T-Shirt, und um den Mund und die Augen hatte sie jene Art von Müdigkeit, die auf zuviel Lesen, zuviel Schreiben, zuviel Denken schließen läßt - zu viele jener Beschäftigungen, die den Körper, seine Pflege oder sein Wohlbehagen übersteigen. Sie schien etwa gleich alt wie Susie, aber sie war viel zu humorlos, als daß sie ein Bär hätte sein können -
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