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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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seinem Erschaffer -, tatsächlich Kopien der Originale waren. Die Originale waren im Unteren Belvedere. Die Nackten, die das Wasser als Quelle des Lebens darstellen sollten, waren von Maria Theresia verdammt worden.
    »Sie war ein Drachen«, sagte Freud. »Sie ernannte eine Keuschheitskommission«, erzählte er uns.
    »Und was machten die?« fragte Franny. »Diese Keuschheitskommission?«
    »Was konnten sie denn machen?« fragte Freud. »Was können solche Leute überhaupt je machen? Sie konnten gegen den Sex nichts ausrichten, da haben sie es eben ein paar Brunnen besorgt.«
    Selbst Freuds Wien - das Wien des anderen Freud - war nur zu bekannt dafür, daß es gegen den Sex nichts ausrichten konnte, doch das hielt die viktorianischen Nachfolger von Maria Theresias Keuschheitskommission nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen. »Damals«, erklärte Freud bewundernd, »war es den Huren erlaubt, in der Oper auf Kundenfang zu gehen, in den Gängen zwischen den Sitzreihen.«
    »Während der Pausen«, fügte Frank hinzu, für den Fall, daß wir das nicht wußten.
    Franks Lieblingstour mit Freud führte zur Kaisergruft in den Katakomben der Kapuzinerkirche. Seit 1633 sind dort die Habsburger bestattet worden. Maria Theresia liegt dort, die alte Prüde. Aber nicht ihr Herz. Die Leichen in den Katakomben sind herzlos - ihre Herzen werden in einer anderen Kirche aufbewahrt; ihre Herzen sind auf einer anderen Tour zu entdecken. »Die Geschichte trennt alles, früher oder später«, deklamierte Freud in der herzlosen Gruft.
    Leb wohl, Maria Theresia - und Franz Josef und Elisabeth und du, unglücklicher Maximilian von Mexiko. Und natürlich liegt auch Franks besonderer Liebling unter ihnen: der Erbe der Habsburger, der arme Selbstmörder Rudolf - er ist auch da. Frank wurde in den Katakomben immer besonders düster.
    Franny und ich waren am traurigsten, wenn Freud uns über die Wipplingerstraße zur Füttergasse führte.
    »Die Querstraße runter!« schrie er, und der Baseballschläger zitterte.
    Wir waren auf dem Judenplatz, dem alten Judenviertel der Stadt. Schon im dreizehnten Jahrhundert war es eine Art Ghetto gewesen; zum erstenmal waren die Juden dort 1421 vertrieben worden. Wir wußten nur wenig mehr über die jüngste Vertreibung.
    Was die Rundgänge mit Freud schwermachte, war die Tatsache, daß er nicht von sichtbaren historischen Zeugnissen ausging. Freud machte uns beispielsweise auf Wohnungen aufmerksam, die keine Wohnungen mehr waren. Er identifizierte ganze Gebäude für uns, die nicht mehr da waren. Und die Leute, die er dort einmal kannte, die waren auch nicht mehr da. Die Tour führte zu Dingen, die wir nicht sehen konnten, aber Freud sah sie noch; er sah, was 1939 und davor war, als er das letzte Mal mit intakten Augen am Judenplatz gewesen war.
    Am Tag, als das Ehepaar aus New Hampshire und ihr Kind ankamen, war Freud mit Lilly zum Judenplatz gegangen. Ich wußte es gleich, denn als sie zurückkam, war sie niedergeschlagen. Ich hatte gerade das Gepäck und die Amerikaner zu ihren Zimmern im zweiten Stock gebracht, und auch ich war niedergeschlagen. Den ganzen Weg nach oben mußte ich an Ernst denken, und wie er Franny die »Kuhstellung« beschrieb. Die Koffer waren nicht besonders schwer, denn ich stellte mir vor, sie seien Ernst und ich schleppte ihn die Treppen hinauf, um ihn aus einem Fenster im vierten Stock zu werfen.
    Die Frau aus New Hampshire fuhr mit der Hand kurz über das Treppengeländer und sagte: »Staub.«
    Schraubenschlüssel kam uns auf dem Treppenabsatz im ersten Stock entgegen. Beide Arme waren von den Fingerspitzen bis zum Bizeps voller Wagenschmiere; er hatte sich eine Rolle Kupferdraht um den Hals gelegt, wie eine Henkersschlinge, und in den Armen schleppte er einen offensichtlich schweren kastenförmigen Gegenstand, der an eine übergroße Batterie denken ließ - zu groß für einen Mercedes, wie mir erst viel später klarwurde.
    »Hi, Wrench«, sagte ich, und er grunzte an uns vorbei; in den Zähnen hielt er - für seine Verhältnisse sehr behutsam - so etwas wie einen kleinen Zünder in einer durchsichtigen Hülle.
    »Der Hotelschlosser«, sagte ich, weil das die einfachste Erklärung war.
    »Nicht sehr sauber«, sagte die Frau aus New Hampshire.
    »Im obersten Stock ist wohl ein Auto abgestellt?« fragte ihr Mann.
    Als wir im zweiten Stock über den Flur gingen und im Halbdunkel nach den richtigen Zimmernummern suchten, ging oben im vierten Stock eine Tür auf, und wir hörten

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