Das Hotel New Hampshire
»aber du mußt zugeben, daß es Phantasie erfordert.«
Und wir waren es natürlich alle gewohnt, mit Phantasien zu leben. Vater ging ganz darin auf: seine Phantasie war sein eigenes Hotel. Freud konnte nur dort sehen. Franny, in der Gegenwart ganz gefaßt, blickte ebenfalls in die Zukunft - und ich blickte immer vor allem auf Franny (und erhoffte mir Signale, wichtige Zeichen, Anweisungen). Von uns allen gelang es Frank wohl am besten, seine Phantasie umzusetzen; er erdachte sich seine eigene Welt und blieb dort für sich. Und Lilly hatte sich in Wien eine Aufgabe gestellt - damit war sie, zunächst einmal, außer Gefahr. Lilly hatte beschlossen, zu wachsen. Das mußte sie mit ihrer Phantasie schaffen, denn wir bemerkten kaum äußerliche Veränderungen an ihr.
Lilly machte vor allem eins in Wien: sie schrieb. Fehlgeburts Lesestunden hatten ihren Eindruck hinterlassen. Lilly wollte Schriftstellerin werden, ausgerechnet, und wir genierten uns so sehr für sie, daß wir sie nie zur Rede stellten - obwohl wir wußten, daß sie die ganze Zeit schrieb. Und es genierte sie selbst auch so sehr, daß sie sich nie dazu bekannte. Aber wir alle wußten, daß Lilly irgend etwas schrieb. Fast sieben Jahre lang schrieb sie unentwegt. Wir wußten, wie ihre Schreibmaschine klang; sie klang anders als die der Radikalen. Lilly schrieb sehr langsam.
»Was machst du denn, Lilly?« fragte jemand und klopfte an ihre ewig verschlossene Tür.
»Wachstumsversuche«, sagte dann Lilly.
Das war dann auch unsere Umschreibung dafür. Wenn Franny sagen konnte, sie sei verprügelt worden, nachdem sie vergewaltigt worden war - wenn wir Franny das durchgehen ließen, dachte ich -, dann mußte es auch Lilly erlaubt sein, zu sagen, sie mache »Wachstumsversuche«, wenn sie (wie wir alle wußten) »Schreibversuche« machte.
Als ich Lilly erzählte, zu der Familie aus New Hampshire gehöre auch ein kleines Mädchen in ihrem Alter, sagte Lilly: »Na und? Ich muß noch ein bißchen wachsen. Vielleicht mache ich mich nach dem Abendessen mit ihr bekannt.«
Eine unselige Eigenheit ängstlicher Menschen - in schlechten Hotels - ist, daß sie oft zu ängstlich sind, um wieder abzureisen. Sie sind so ängstlich, daß sie es nicht einmal wagen, sich zu beschweren. Und zu ihrer Ängstlichkeit gehört auch eine gewisse Höflichkeit; wenn sie ausziehen, weil ein Schraubenschlüssel sie auf der Treppe erschreckt hat, weil eine Jolanta in der Lobby jemanden ins Gesicht gebissen hat, weil eine Kreisch-Annie sie mit ihrem Geheul dem Tod ein Stückchen näher gebracht hat - selbst wenn sie Bärenhaare im Bidet finden, entschuldigen sie sich immer noch.
Nicht jedoch die Frau aus New Hampshire. Sie war forscher als das Durchschnittsexemplar des ängstlichen Gastes. Sie hielt durch, als die Huren am frühen Abend ihre ersten Kunden anschleppten (die Familie war offenbar zum Essen ausgegangen). Die Familie hielt bis nach Mitternacht durch, ohne sich zu beschweren; nicht einmal eine telefonische Anfrage beim Empfangsschalter. Frank machte Schulaufgaben mit der Schneiderpuppe. Lilly machte Wachstumsversuche. Franny war am Schalter in der Lobby, und Susie der Bär strich dort herum - ihre Gegenwart machte die Kunden der Huren wie immer zu den friedfertigsten Menschen. Ich war unruhig. (Ich war sieben Jahre lang unruhig, aber an diesem Abend war ich besonders unruhig.) Ich war mit der Dunklen Inge und der Alten Billig beim Darts-Spielen im Cafe Mowatt gewesen. Es war für die Alte Billig wieder mal ein lahmer Abend. Kreisch-Annie fand kurz nach Mitternacht einen Kunden, als sie die Kärntner Straße überquerte und in die Krugerstraße einbog. Ich wartete gerade, bis ich mit den Darts an der Reihe war, als Kreisch-Annie und ihr scheuer männlicher Begleiter einen Blick ins Mowatt warfen; Kreisch-Annie sah die Dunkle Inge bei mir und der Alten Billig sitzen.
»Es ist nach Mitternacht«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Du gehst jetzt schlafen. Du mußt morgen zur Schule.«
Wir gingen also alle - mehr oder weniger zusammen - zurück ins Hotel New Hampshire. Kreisch-Annie und ihr Kunde gingen ein wenig voraus, Inge und ich gingen links und rechts von der Alten Billig, die vom Tal der Loire in Frankreich redete. »Da würde ich mich gern zur Ruhe setzen«, sagte sie, »oder meine nächsten Ferien verbringen.« Die Dunkle Inge und ich wußten, daß die Alte Billig ihre Ferien - alle ihre Ferien - bei der Familie ihrer Schwester in Baden verbrachte. Sie fuhr immer mit dem Bus
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