Das Hotel New Hampshire
Latte zu kriegen«, sagte mir Jolanta. »Ich hab's gesehen. Für so was hab ich ein gutes Auge.«
»Wenn du einen Ständer kriegst, dann kannst du ihn auch einsetzen«, sagte Kreisch-Annie. »Und ich sage dir nur, wenn du ihn einsetzen willst, dann nicht bei der Dunklen Inge. Tust du das, dann bist du ihn los«, ließ mich Kreisch-Annie wissen.
»Genau«, sagte Jolanta. »Komm zu uns damit, aber nie zu der Kleinen. Versuchst du's bei der Kleinen, machen wir dich fertig. Da kannst du noch so viele Gewichte heben, irgendwann mußt du auch schlafen.«
»Und wenn du wieder aufwachst«, sagte Kreisch-Annie, »ist deine Latte weg.«
»Kapiert?« fragte Jolanta.
»Klar«, sagte ich. Und Jolanta beugte sich vor und küßte mich auf den Mund. Es war ein Kuß, der in seiner Leblosigkeit so bedrohlich war wie damals an Silvester der nach Erbrochenem schmeckende Kuß von Doris Wales. Doch dann wich Jolanta plötzlich zurück, mit meiner Unterlippe fest zwischen ihren Zähnen - so lange, bis ich aufschrie. Dann gab sie mich frei. Ich spürte, wie meine Arme ganz von selbst nach oben gingen - wie sie das tun, wenn ich für eine halbe Stunde oder so meine einarmigen Hantelübungen gemacht habe. Aber Jolanta behielt mich im Rückwärtsgehen sehr genau im Auge, immer mit den Händen in der Handtasche. Ich achtete auf die Hände und die Handtasche, bis sie aus meinem Zimmer draußen war. Kreisch-Annie war noch da.
»Das mit dem Biß tut mir leid«, sagte sie. »Das war wirklich nicht meine Idee. Sie ist einfach fies, ganz von sich aus. Du weißt doch, was sie in ihrer Handtasche hat?« Ich wollte es nicht wissen.
Kreisch-Annie mußte es ja wissen. Sie wohnte bei Jolanta. Ja, von der Dunklen Inge wußte ich, daß nicht nur ihre Mutter und Jolanta Freundinnen von der lesbischen Sorte waren, sondern daß auch Babette mit einer Frau zusammenlebte (einer Hure, die auf der Mariahilfer Straße anschaffte). Lediglich die Alte Billig bevorzugte Männer, doch die Alte Billig war so alt, daß sie, wie mir die Dunkle Inge erzählte, gar nichts bevorzugte - die meiste Zeit jedenfalls.
Sex blieb also in meiner Beziehung zur Dunklen Inge völlig aus dem Spiel; ja, es wäre mir nicht eingefallen, im Zusammenhang mit ihr an Sex auch nur zu denken, wenn ihre Mutter nicht davon gesprochen hätte. Ich blieb strikt bei meinen Phantasien: von Franny, von Jolanta. Und natürlich bei meiner schüchternen, ungeschickten Werbung um Fehlgeburt, die Vorleserin. Die Mädchen in der amerikanischen Schule wußten alle, daß ich »in dem Hotel in der Krugerstraße« wohnte; ich gehörte nicht derselben Klasse von Amerikanern an wie sie. Es heißt, in Amerika seien die meisten Amerikaner überhaupt nicht klassenbewußt, aber ich weiß über die in Übersee lebenden Amerikaner Bescheid, und die legen wahnsinnig viel Wert auf das Bewußtsein, zu einer bestimmten Art von Amerikanern zu gehören.
Franny hatte ihren Bären, und vermutlich hatte sie ebenso ihre Phantasien wie ich. Sie hatte Junior Jones und seine Taten als Football spiel er; es muß ihrer Phantasie sehr viel Mühe gemacht haben, sich ihn über die Footballspiele hinaus vorzustellen. Und sie hatte ihren Briefwechsel mit Chipper Dove, sie hatte ihre ziemlich einseitigen Phantasien von ihm.
Susie hatte eine Theorie über Frannys Briefe an Chipper Dove. »Sie fürchtet sich vor ihm«, sagte Susie. »Sie hat entsetzliche Angst davor, ihm noch einmal zu begegnen. Aus dieser Angst heraus tut sie es - aus Angst schreibt sie ihm die ganze Zeit. Denn wenn sie ihn ansprechen kann, in einem ganz normalen Ton - wenn sie so tun kann, als sei die Beziehung zu ihm ganz normal - nun ... dann kann er sie nicht vergewaltigt haben, dann hat er es eigentlich nie getan, und sie will sich nicht auseinandersetzen mit der Tatsache, daß er es getan hat. Denn«, so sagte Susie, »sie fürchtet, Dove oder ein anderer von seiner Sorte könnte sie wieder vergewaltigen.«
Ich dachte darüber nach. Susie war vielleicht nicht der schlaue Bär, der Freud vorschwebte, aber auf ihre Art war sie durchaus ein schlauer Bär.
Was Lilly einmal über sie sagte, ist mir in Erinnerung geblieben. »Man kann sich über Susie lustig machen, weil sie Angst davor hat, einfach Mensch zu sein und sich mit anderen Menschen - wie sie sagen würde: - auseinandersetzen zu müssen. Aber wie viele Menschen empfinden genauso, haben aber nicht die Phantasie, etwas dagegen zu tun? Es mag ja doof sein, als Bär durchs Leben zu gehen«, sagte Lilly,
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