Das Hotel New Hampshire
angeberisch den Kopf zurück und ließ ein bärenmäßig tiefes Brummen und Schnauben hören.
»Sieh mal, ein Bär«, sagte das kleine Mädchen und umklammerte das Bein ihres Vaters.
Frank holte aus der Glocke ein schrilles ping! heraus. »Gepäckträger!« brüllte Frank.
Ich mußte mich von Ernsts Beschreibung der tantrischen Stellungen losreißen.
»Die Vyanta-Gruppe kennt zwei Hauptstellungen«, sagte er eben mit sanfter Stimme. »Die Frau beugt sich vor, bis sie mit den Händen den Boden berührt, während der Mann sie im Stehen von hinten nimmt - das ist die Dhenuka-Vyanta-Asana oder Kuhstellung«, sagte Ernst, seinen feuchten Blick auf Franny gerichtet.
»Die Kuhstellung?« sagte Franny.
»Earl!« sagte Susie mißbilligend und legte Franny den Kopf in den Schoß - sie spielte für die neuen Gäste den Bären.
Ich machte mich mit dem Gepäck auf den Weg nach oben. Das kleine Mädchen konnte die Augen nicht von dem Bären lassen.
»Ich habe eine Schwester etwa in deinem Alter«, sagte ich ihr. Lilly war mit Freud auf einem Spaziergang - und Freud belehrte sie zweifellos über all die Sehenswürdigkeiten, die er nicht sehen konnte.
So war das, wenn Freud uns herumführte, den Baseballschläger auf der einen und eines von uns Kindern oder Susie auf der anderen Seite. Wir lotsten ihn durch die Stadt und riefen die Namen der Straßenecken aus, sobald wir dort waren. Freud wurde langsam auch taub.
»Sind wir in der Blutgasse?« schrie Freud.
Und Lilly oder Frank oder Franny oder ich brüllten: »Ja! Blood Lane!«
»Dann geht's rechts ab«, wies Freud uns die Richtung. »Wenn wir in die Domgasse kommen, Kinder«, sagte er, »müssen wir die Nummer Fünf finden. Das ist der Eingang zum Figaro-Haus, wo Mozart Figaros Hochzeit geschrieben hat. Wann war das, Frank?« schrie Freud.
»Siebzehn fünfundachtzig!« schrie Frank zurück.
»Und wichtiger noch als Mozart«, sagte Freud, »ist das erste Kaffeehaus in Wien. Sind wir noch in der Blutgasse, Kinder?«
»Ja! In der Blood Lane«, sagten wir.
»Sucht die Nummer Sechs«, schrie Freud. »Das erste Kaffeehaus in Wien! Nicht mal Schwanger weiß das. Sie liebt zwar ihr Schlagobers, aber sie ist wie alle diese politischen Menschen«, sagte Freud. »Sie hat keinen Sinn für Historisches. «
Wir lernten von Schwanger tatsächlich nichts Historisches. Wir lernten Kaffee lieben und mit einem kleinen Glas Wasser hinunterspülen; wir lernten, den weichen Schmutz von Zeitungen an den Fingern zu mögen. Franny und ich stritten uns immer um das eine Exemplar der International Herold Tribune. In unseren sieben Jahren in Wien gab es darin immer irgendwelche Neuigkeiten über Junior Jones zu finden.
»Penn State gegen Navy 35:6!« las Franny vor, und wir jubelten alle.
Und später waren es dann die Cleveland Browns gegen die New York Giants, 28:14. Die Baltimore Colts gegen die armen Browns, 21:17. Obwohl Junior Franny kaum mehr als diese Dinge mitteilte - in seinen gelegentlichen Briefen -, war es irgendwie etwas ganz Besonderes, so indirekt etwas über ihn zu erfahren, auf dem Umweg über die Footballergebnisse, Tage später, in der Herold Tribune.
»Rechts in die Judengasse einbiegen!« gab Freud an. Und wir folgten der Judengasse bis zur Ruprechtskirche.
»Elftes Jahrhundert«, murmelte Frank. Für Frank galt: je älter, desto besser.
Und hinunter zum Donaukanal; am Fuß des Hügels, am Franz-Josefs-Kai, war das Denkmal, zu dem Freud uns ziemlich oft hinführte: die Marmortafel zur Erinnerung an die Mordopfer der Gestapo, die an dieser Stelle ihr Hauptquartier gehabt hatte.
»Genau hier!« schrie Freud und stampfte auf und fuchtelte mit dem Baseballschläger herum. »Beschreibt mir diese Tafel!« rief er. »Ich hab sie nie gesehen.«
Natürlich nicht: denn in einem der Lager war er blind geworden. Sie hatten dort irgendein Experiment mit seinen Augen gemacht, und es war schiefgegangen.
»Nein, nicht im Ferienlager«, mußte Franny Lilly erklären, die immer gefürchtet hatte, man könnte sie sommers in ein Ferienlager schicken, und die gar nicht überrascht war, daß man im Lager gefoltert wurde.
»Das war kein Ferienlager, Lilly«, sagte Frank. »Freud war in einem Todeslager.«
»Aber Herr Tod hat mich nie gefunden«, sagte Freud zu Lilly. »Mr. Death hat mich nie zuhause angetroffen, wenn er einen Besuch machte.«
Es war Freud, der uns erklärte, daß die nackten Figuren in dem Brunnen am Neuen Markt, dem Mehlmarktbrunnen - oder Donner-Brunnen, nach
Weitere Kostenlose Bücher