Das Hotel New Hampshire
von uns sonderlich für das Spiel interessierte, konnte uns diese LouisvilleKeule die Tränen in die Augen treiben). Wir lernten von den Nutten, daß neben der Innenstadt die Mariahilfer Straße für die Königinnen der Nacht das verheißungsvollste Jagdrevier war. Und jede Nutte kündigte an, sie werde aus dem Geschäft aussteigen, wenn sie je in die Bezirke jenseits des Westbahnhofs verdrängt würde, ins Cafe Eden, zu den Hundertschilling-Stehficks am Gaudenzdorfer Gürtel. Wir lernten von den Radikalen, daß die Prostitution gar nicht offiziell legal war - wie wir geglaubt hatten -, daß es registrierte Nutten gab, die sich an Vorschriften hielten, sich medizinisch überprüfen ließen, in den richtigen Bezirken anschafften, und daß es »Schlupfwespen« gab, die sich nie registrieren ließen oder die ihr Büchl (ihre Lizenz) zurückgaben und trotzdem im Gewerbe blieben: daß es in den frühen 1960er Jahren fast tausend registrierte Huren in der Stadt gab; daß die Dekadenz in dem für die Revolution erforderlichen Maße zunahm.
Was für eine Revolution nun eigentlich über die Bühne gehen sollte, erfuhren wir nie. Ich bin mir auch nicht sicher, daß all die Radikalen Bescheid wußten.
»Hast du dein Büchl?«. fragten wir Kinder einander auf dem Weg zur Schule - und später auf dem Weg zur Universität.
Das und »Bleib immer weg von offenen Fenstern«, den Refrain aus unserem Lied vom Mäusekönig.
Unser Vater schien mit dem Verlust unserer Mutter seine Persönlichkeit verloren zu haben. In den sieben Jahren wurde er, glaube ich, immer mehr zu einer Erscheinung, die einfach da war, und hatte immer weniger von einer Person - für uns Kinder. Er war liebevoll; er konnte sogar sentimental sein. Aber als Vater schien er für uns so verloren wie Mutter und Egg, und ich glaube, wir ahnten, daß er erst noch weitere leidvolle Erfahrungen durchstehen mußte, bevor er seine Persönlichkeit wiedergewinnen konnte - bevor er überhaupt wieder eine Persönlichkeit werden konnte: so wie Egg eine Persönlichkeit gewesen war, so wie Iowa-Bob eine gewesen war. Manchmal dachte ich, Vater habe sogar noch weniger von einer Persönlichkeit als Freud. Sieben Jahre lang vermißten wir unseren Vater, als wäre auch er in diesem Flugzeug gewesen. Wir warteten darauf, daß der Held in ihm Gestalt annahm, und vielleicht hatten wir Zweifel an deren endgültiger Form - denn mit Freud als seinem Vorbild mußte man am Weitblick meines Vaters einfach zweifeln.
In diesen sieben Jahren wurde ich zweiundzwanzig; Lilly, die ihre Wachstumsversuche unentwegt fortsetzte, ging auf achtzehn zu. Franny wurde dreiundzwanzig - und Chipper Dove war immer noch »der Erste« und Susie der Bär ihr ein und alles. Mit vierundzwanzig ließ Frank sich einen Bart stehen. Das war fast so peinlich wie Lillys Wunsch, Schriftstellerin zu werden.
Moby-Dick versenkte die Pequod, und nur Ismael überlebte, immer und immer wieder, um seine Geschichte Fehlgeburt zu erzählen, die sie dann uns weitererzählte. In meinen Jahren an der Universität bedrängte ich Fehlgeburt ständig mit meinem Wunsch, Moby-Dick von ihr vorgelesen zu bekommen. »Ich kann dieses Buch nie für mich allein lesen«, bettelte ich. »Ich muß es von dir hören.«
Und das verschaffte mir endlich Zugang zu Fehlgeburts engem, chaotischem Zimmer hinter dem Rathaus, in der Nähe der Universität. Sie las mir abends vor, und ich versuchte ihr zu entlocken, weshalb ein paar der Radikalen die Nacht im Hotel New Hampshire verbrachten.
»Für mich«, erklärte mir Fehlgeburt einmal, »ist das einzige Element in der amerikanischen Literatur, das sie von anderen Literaturen der Welt unterscheidet, eine Art übermütige, unlogische Zuversicht. Im Grunde ist sie technisch recht differenziert, bleibt aber ideologisch naiv«, sagte mir Fehlgeburt einmal auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Frank war zuletzt doch noch ein Licht aufgegangen, und er begleitete uns nicht mehr - auch wenn er dazu seine fünf Jahre gebraucht hatte. Und der Abend, an dem Fehlgeburt mir erklärte, die amerikanische Literatur sei »technisch recht differenziert«, bleibe aber »ideologisch naiv«, war nicht der Abend, an dem ich zum erstenmal versuchte, sie zu küssen. Nach dem Hinweis aufs »ideologisch Naive« wäre ein Kuß wohl fehl am Platze gewesen.
An dem Abend, als ich Fehlgeburt zum erstenmal küßte, waren wir auf ihrem Zimmer. Sie hatte gerade das Kapitel vorgelesen, in dem sich Ahab weigert, dem Kapitän der Rachel bei der
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