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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Fehlgeburt.
    »Was?« sagte ich und zuckte zusammen - und würde ewig zusammenzucken, wenn ich dieses Echo von Egg hörte. Sogar wenn es von mir selber kam.
    »Haben wir alles getan, sexuell gesehen?« fragte Fehlgeburt. »War es das? War das alles?«
    Ich versuchte mich zu erinnern. »Ich glaube schon«, sagte ich. »Möchtest du noch mehr tun?«
    »Eigentlich nicht«, sagte sie. »Es ging mir nur darum, das alles einmal getan zu haben«, sagte sie. »Wenn wir alles getan haben, kannst du nach Hause gehen - wenn du möchtest«, fügte sie hinzu. Sie zuckte mit den Achseln. Es war nicht Mutters Achselzucken, auch nicht Frannys; es war nicht einmal Jolantas Achselzucken. Das war schon keine menschliche Bewegung mehr; es war weniger ein Zucken als vielmehr eine Art elektrischer Stoß, der wie ein mechanischer Ruck durch ihren angespannten Körper ging, ein dunkles Signal. Das dunkelste, dachte ich. »Niemand zu Hause«, besagte es; »Ich bin nicht da, Sie brauchen nicht mehr anzurufen, ich ruf zurück.« Es war das Ticken einer Uhr oder einer Zeitbombe. Fehlgeburts Augen blinzelten mich einmal an, dann war sie eingeschlafen. Ich sammelte meine Kleider ein. Ich sah, daß sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Stelle in Moby-Dick zu markieren, bis zu der sie gelesen hatte; ich machte mir auch nicht die Mühe.
    Es war nach Mitternacht, als ich auf dem Weg vom Rathausplatz zum Volksgarten den Dr.-Karl-Renner-Ring überquerte. In dem Biergarten schrien einige Studenten einander freundschaftlich an; wahrscheinlich kannte ich ein paar von ihnen, aber ich ging weiter. Ich wollte nicht bei einem Bier über die Grenzen der Kunst diskutieren. Ich wollte mich nicht schon wieder über das AlexandriaQuartett unterhalten - darüber, welcher dieser Romane der beste und welcher der schlechteste sein mochte, und warum. Ich wollte nicht darüber diskutieren, wer der größere Nutznießer aus dem Briefwechsel zwischen Henry Miller und Lawrence Durrell sein mochte. Ich wollte nicht einmal über Die Blechtrommel reden, obwohl es nichts Besseres gab - und vielleicht nie geben würde -, worüber man reden konnte. Und ich wollte nicht noch eine Diskussion über Ost-West-Beziehungen, über Sozialismus und Demokratie, über die langfristigen Auswirkungen des Attentats auf Präsident Kennedy - und was hielt ich, als Amerikaner, von der Rassenfrage? Der Sommer des Jahres 1964 ging zu Ende; ich war seit 1957 nicht mehr in den Vereinigten Staaten gewesen, und ich wußte weniger über mein Land, als einige der Wiener Studenten wußten. Ich wußte auch weniger über Wien als irgendeiner von ihnen. Ich wußte etwas über meine Familie, ich wußte etwas über unsere Nutten und unsere Radikalen; ich war ein Experte, was das Hotel New Hampshire anging, und in jeder anderen Hinsicht ein Laie.
    Ich ging quer über den Heldenplatz und stand dort, wo einst Tausende jubelnder Faschisten Hitler begrüßt hatten.
    Ich sagte mir, daß Fanatiker immer ihr Publikum finden würden; es blieb einem nur die Hoffnung, daß man die Größe des Publikums beeinflussen konnte. Ich nahm mir vor, diese Erkenntnis festzuhalten und sie an Frank auszuprobieren, der sie entweder als eigene Erkenntnis übernehmen oder sie revidieren oder mich verbessern würde. Ich wünschte mir, ich hätte so viel gelesen wie Frank; ich wünschte mir, ich hätte so hartnäckig zu wachsen versucht wie Lilly. Tatsächlich hatte Lilly die Mühen ihres Wachsens einem Verleger in New York geschickt. Erst wollte sie es uns gar nicht sagen, aber dann mußte sie bei Franny Geld für das Porto leihen.
    »Es ist ein Roman«, sagte Lilly verlegen. »Ein bißchen autobiographisch.«
    »Wie groß ist dieses Bißchen?« hatte Frank sie gefragt.
    »Na ja, eigentlich ist es eine erfundene Autobiographie«, sagte Lilly.
    »Also stark autobiographisch«, sagte Franny. »O Mann.«
    »Ich kann es kaum erwarten«, sagte Frank. »Ich wette, ich gebe einen echten Spinner ab.«
    »Nein«, sagte Lilly. »Jeder ist ein Held.«
    »Wir sind alle Helden?« fragte ich.
    »Na ja, ihr seid alle Helden, für mich«, sagte Lilly. »Deshalb ist das im Buch auch so.«
    »Selbst Vater?« fragte Franny.
    »Also, bei ihm ist das meiste erfunden.«
    Und ich dachte, bei Vater mußte einfach am meisten erfunden sein, weil er am wenigsten wirklich war - er war von uns allen am wenigsten da. Manchmal schien es, als sei Vater weniger unter uns als Egg.
    »Wie heißt denn das Buch, mein Schatz?« hatte Vater Lilly

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