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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Land der Freiheit«, sagte Vater, rührte mit dem Zeigefinger in seinem abscheulichen Drink und lutschte dann an seinem Finger. »Und keine Hotels mehr«, sagte er leise. »Ich werde mir einen Job suchen müssen.«
    Er sagte das so wie jemand, der einem erzählt, er werde sich operieren lassen müssen. Es tat weh, mit anzusehen, wie ihm die Wirklichkeit auf den Leib rückte.
    »Und ihr Kinder werdet zur Schule gehen müssen«, sagte er. »Aufs College«, fügte er verträumt hinzu.
    Ich erinnerte ihn daran, daß wir alle auch bisher schon Schule und College besucht hatten. Frank und Franny und ich hatten das Studium bereits abgeschlossen; und wozu sollte Lilly ihren Abschluß - in amerikanischer Literatur - machen, wenn sie doch schon einen Roman abgeschlossen hatte?
    »Oh«, sagte er. »Nun, dann werden wir uns vielleicht alle einen Job suchen müssen.«
    »Das geht schon in Ordnung«, sagte ich. Er sah mich an und lächelte; er beugte sich vor und küßte mich auf die Wange. Alles an ihm sah so vollkommen aus, daß kein Mensch in dieser Bar auch nur eine Sekunde lang hätte denken können, ich sei der junge Liebhaber dieses Mannes in mittleren Jahren. Es war ein väterlicher Kuß, und hatten sie Vater schon beim Hereinkommen voller Neid angestarrt, so wurden ihre Blicke jetzt noch neidvoller.
    Es dauerte ewig, bis er aufhörte, mit seinem Drink zu spielen. Ich trank noch zwei Bier. Ich wußte, was er machte. Er schlürfte die Sacher-Bar in sich hinein, er verschaffte sich einen letzten gründlichen Eindruck vom Hotel Sacher; er stellte sich natürlich vor, es sei sein Hotel - und er wohne hier.
    »Eurer Mutter«, sagte er, »hätte all das sehr gefallen.« Er machte mit seiner Hand nur eine kleine Bewegung, bevor er sie in den Schoß legte.
    Was von all dem hätte ihr gefallen? fragte ich mich. Das Hotel Sacher und die Sacher-Bar - ganz bestimmt. Aber was hätte ihr sonst noch gefallen? Ihr Sohn Frank, der sich einen Bart stehen ließ und versuchte, die Botschaft seiner Mutter - ihren Willen - einer Schneiderpuppe zu entlocken? Ihre jüngste Tochter Lilly mit ihren Wachstumsversuchen? Ihre größte Tochter Franny mit ihren Versuchen, alles herauszufinden, was ein Pornograph wußte? Und hätte ich ihr gefallen? überlegte ich: der Sohn, der sich zwar die derbe Sprache abgewöhnte, der aber keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als mit seiner eigenen Schwester zu schlafen. Und Franny wollte es auch! Das war natürlich der Grund, weshalb sie zu Ernst gegangen war.
    Vater konnte nicht wissen, warum mir die Tränen kamen, aber er fand die richtigen Worte. »Es wird nicht so schlimm werden«, beruhigte er mich. »Wir Menschen sind doch bemerkenswert - wie wir lernen, mit allem zu leben«, sagte Vater zu mir. »Wenn wir nicht durch das, was wir verlieren und vermissen, was wir wollen und nicht haben können, stark werden könnten«, sagte Vater, »dann könnten wir nie stark genug werden, oder? Was sonst macht uns stark?« fragte Vater.
    Alle in der Sacher-Bar sahen zu, wie ich weinte und wie mein Vater mich tröstete. Das ist wohl einer der Gründe, weshalb es - meiner Meinung nach - die schönste Bar der Welt ist: dank ihrem Charme braucht sich dort niemand zu schämen, wenn er sich unglücklich fühlt.
    Als mir Vater den Arm um die Schulter legte, fühlte ich mich besser.
    »Good night, Mr. Berry«, sagte der Barkeeper.
    »Auf Wiedersehen«, sagte Vater: er wußte, er würde nie zurückkommen.
    Draußen hatte sich alles verändert. Es war dunkel. Es war Herbst geworden. Der erste Mann, dem wir begegneten und der mit raschen Schritten an uns vorbeiging, trug schwarze Hosen, schwarze Lackschuhe und eine weiße Smokingjacke.
    Mein Vater nahm von dem Mann in der weißen Smokingjacke keine Notiz, aber mir war bei diesem Omen, bei diesem Fingerzeig, nicht wohl; ich wußte, der Mann in der weißen Smokingjacke hatte sich für die Oper feingemacht. Offenbar beeilte er sich, um rechtzeitig dort zu sein. Die Herbstsaison, vor der Fehlgeburt mich gewarnt hatte, stand unmittelbar bevor. Man spürte förmlich, daß sie in der Luft lag.
    An der Metropolitan Opera in New York wurde die Saison 1964 mit Donizettis Lucia di Lammermoor eröffnet. Ich habe das in einem von Franks Opernbüchern gelesen, aber Frank sagt, er bezweifle sehr stark, daß sie die Saison in Wien mit Lucia eröffnet hätten. Frank sagt, wahrscheinlich sei für die Saisoneröffnung etwas typisch Wienerisches vorgesehen gewesen - »ihr geliebter Strauß, ihr geliebter

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