Das Hotel New Hampshire
nahm ich ihre Handtasche vom Nachttisch und schaute hinein. Es sah darin aus, als hätte sich Susie der Bär darum gekümmert. Da war eine Tube mit irgendeiner Salbe, die ausgelaufen war, so daß alles klebte, was man anfaßte. Da war der übliche Lippenstift, die übliche Packung Präservative (ich bemerkte, daß ich vergessen hatte, meines abzustreifen), die üblichen Zigaretten, Pillen, Parfüm, Papiertaschentücher, Kleingeld, eine dicke Geldtasche - und einige Döschen mit allerlei Kram. Nirgends ein Messer, von einem Revolver ganz zu schweigen. Ihre Handtasche war eine leere Drohung; ihr Sex war eine Attrappe und nun schien auch ihre Gewalttätigkeit nur eine Attrappe. Dann ertastete ich ein Schraubglas, das erheblich größer war als all die Döschen - es war geradezu unangenehm groß. Ich zog es aus ihrer Handtasche und sah es mir an; Jolanta drehte sich um und kreischte los.
»Mein Baby!« kreischte sie. »Stell sofort mein Baby hin!«
Ich ließ es fast fallen, dieses große Glas. Und in der trüben Flüssigkeit sah ich den menschlichen Fötus schwimmen, den winzigen Embryo mit geballten Fäusten: Jolantas einzige Blüte, die schon im Keim erstickt worden war. Bedeutete ihr - wie einem Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt - dieser Embryo so etwas wie eine Schein-Waffe, eine Attrappe? War es das, wonach sie in ihrer Handtasche griff, worauf sie die Hände legte, wenn die Lage bedrohlich wurde? Und auf welche seltsame Weise war ihr das ein Trost?
»Stell sofort mein Baby hin!« schrie sie und kam auf mich zu, nackt - und triefend naß von ihrem Bidet. Ich stellte das Glas mit dem Fötus behutsam auf das Kissen auf ihrem Bett und floh.
Als ich Jolantas Tür hinter mir zumachte, hörte ich Kreisch-Annie, die wieder mal eine falsche Ankunft verkündete. Anscheinend war Vater gerade dabei, ihr die schlechte Nachricht mitzuteilen. Ich setzte mich auf den Treppenabsatz im ersten Stock, denn ich wollte nicht zu Susie dem Bären in die Lobby und traute mich auch nicht, Franny im Stock darüber aufzuspüren. Vater kam aus Annies Zimmer; er legte mir kurz seine Hand auf die Schulter und wünschte mir eine gute Nacht; dann ging er hinunter, um sich schlafen zu legen.
»Hast du's ihr gesagt?« rief ich hinter ihm her.
»Es schien für sie keine Rolle zu spielen«, sagte Vater. Ich ging zu Kreisch-Annies Tür und klopfte an.
»Ich weiß schon Bescheid«, sagte sie mir, als sie sah, wer geklopft hatte.
Aber bei Jolanta hatte ich es nicht geschafft, zu kommen; etwas anderes ergriff Besitz von mir, als ich vor Kreisch-Annies Tür stand. »Warum sagst du das nicht gleich?« sagte Kreisch-Annie, als ich den Mund immer noch nicht aufgemacht hatte. Sie zog mich in ihr Zimmer und machte die Tür zu. »Wie der Vater, so der Sohn«, sagte sie. Sie half mir beim Ausziehen; sie selbst war bereits ausgezogen.
Kein Wunder, daß sie so schwer arbeiten muß, sagte ich mir - sie kannte offenbar das System nicht, nach dem all die ›Extras‹ auch extra zu bezahlen waren, so wie bei Jolanta. Kreisch-Annie machte alles für blanke vierhundert Schilling.
»Und wenn du nicht kommst«, sagte sie mir, »dann ist das meine Schuld. Aber du wirst kommen«, versicherte sie mir.
»Bitte«, sagte ich zu ihr, »wenn es dir nichts ausmacht, mir wäre es schon lieber, du würdest nicht kommen. Ich meine, mir wäre es lieber, du würdest nichts vormachen. Ich hätte ein leises Ende wirklich am liebsten«, bat ich sie, aber sie machte bereits die ersten merkwürdigen Laute unter mir. Und dann hörte ich einen Laut, der mir Angst einjagte. Er klang anders als alles, was ich je von Kreisch-Annie gehört hatte; es war auch nicht das Lied, das Susie der Bär Franny entlockte. Eine schreckliche Sekunde lang - weil so viel Schmerz in dem Laut mitschwang - dachte ich, es sei das Lied, das Ernst der Pornograph Franny singen ließ, doch dann begriff ich, daß es mein Laut war, daß es meine eigene erbärmliche Singstimme war. Kreisch-Annie begann mit mir zu singen, und in der bebenden Stille, die auf unser furchteinflößendes Duett folgte, hörte ich eine Stimme brüllen, die nur Franny gehören konnte - und es kam ganz aus der Nähe, vermutlich vom Treppenabsatz am Ende des Ganges: »Herrgott nochmal, beeilt euch doch, damit das endlich aufhört!« kreischte Franny.
»Warum hast du das getan?« fragte ich flüsternd, während Kreisch-Annie unter mir keuchte.
»Warum hab ich was getan?« sagte sie.
»Den Orgasmus getürkt«, sagte ich.
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