Das Hotel New Hampshire
Salat ein besonders dünnes Exemplar, aß die Hälfte davon und legte die andere Hälfte auf meinen Butterteller; sie nahm eine Gabel und stocherte in meinen Froschschenkeln herum, aber sie war offensichtlich nur unruhig - sie wollte nichts essen.
»Und was hast du heute geschrieben, Franny?« fragte Lilly. Franny hatte den Mund voll, aber das hielt sie nicht auf.
»Einen ganzen Roman«, sagte Franny. »Er war wirklich übel, aber es war etwas, was ich einfach tun mußte. Als ich damit fertig war, hab ich ihn weggeworfen.«
»Du hast ihn weggeworfen?« fragte Lilly. »Vielleicht hätte es sich gelohnt, Teile davon aufzubewahren.«
»Es war alles Scheiße«, sagte Franny. »Wort für Wort. John hat ein bißchen davon gelesen«, sagte Franny, »aber er mußte es mir zurückgeben, damit ich das ganze Ding rauswerfen konnte. Ich hab es vom Zimmerservice abholen lassen.«
»Du hast es vom Zimmerservice wegwerfen lassen?« sagte Lilly.
»Ich hätte es nicht ertragen, das Ding noch mal anzufassen«, sagte Franny.
»Wie viele Seiten waren es?« fragte Lilly.
»Zu viele«, sagte Franny.
»Und wie fandest du das, was du davon gelesen hast?« fragte mich Lilly.
»Alles Schrott«, sagte ich. »Es gibt nur eine Autorin in unserer Familie.«
Lilly lächelte, aber Franny trat unter dem Tisch nach mir; ich verschüttete etwas Wein, und Franny lachte.
»Es freut mich, daß du Vertrauen zu mir hast«, sagte Lilly, »aber jedesmal wenn ich den Schluß des Gatsby lese, habe ich meine Zweifel. Es ist dermaßen schön«, sagte Lilly. »Ich finde, wenn ich nie einen so perfekten Schluß schreiben kann, dann ist es sinnlos, ein Buch auch nur anzufangen. Es ist sinnlos, ein Buch zu schreiben, wenn man nicht daran glaubt, daß es so gut werden könnte wie Der große Gatsby. Ich meine, es macht nichts, wenn es danebengeht - wenn das fertige Buch nicht irgendwo sehr gut ist -, aber man muß von Anfang an daran glauben, daß es ein sehr gutes Buch werden könnte. Und manchmal wirft mich dieser verdammte Gatsby mit seinem Schluß schon um, bevor ich mit dem Schreiben auch nur anfangen kann«, sagte Lilly; ihre kleinen Hände waren Fäuste, und Franny und ich bemerkten, daß sie in der einen Faust die Überreste eines Brötchens hielt. Lilly aß nicht gern, aber irgendwie schaffte sie es, ihr Essen total zu zermanschen, ohne den geringsten Nährwert für sich herauszuholen.
»Lilly, die Verzagte«, sagte Franny. »Du mußt einfach hergehen und es tun, Lilly«, sagte Franny zu ihr und gab mir zu den Worten »es tun« unter dem Tisch einen Tritt.
Als schwer angeschlagener Mann kehrte ich in die Central Park South 222 zurück. Tatsächlich wurde mir erst nach unserem gewaltigen Essen klar, daß ich in meinem Zustand die Entfernung von zwanzig Straßenblöcken und einem Zoo nicht würde laufen können; ich hatte meine Zweifel, ob ich überhaupt gehen konnte. Meine Schamteile taten mächtig weh. Ich sah, wie Franny das Gesicht verzog, als sie vom Tisch aufstand, um ihr Portemonnaie zu holen; auch sie litt unter den Folgen unserer Exzesse - es war natürlich alles so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte: wir sollten noch auf Tage hinaus die Schmerzen unserer Liebe spüren. Und diese Schmerzen sollten dafür sorgen, daß wir vernünftig blieben; die Schmerzen sollten uns beide davon überzeugen, daß uns auf diesem Weg die sichere Selbstvernichtung bevorstand.
Franny fand in ihrem Portemonnaie etwas Geld für ein Taxi; mit einem sehr keuschen und schwesterlichen Kuß gab sie mir das Geld. Bis auf den heutigen Tag gibt es - zwischen Franny und mir - keine andere Art des Küssens. Wir küssen uns heute so, wie sich vermutlich die meisten Brüder und Schwestern küssen. Es ist vielleicht langweilig, aber es hält einen von den offenen Fenstern fern.
Und als ich an diesem Abend - kurz vor Weihnachten 1964 - das Stanhope verließ, fühlte ich mich zum erstenmal wirklich außer Gefahr. Ich war auch ziemlich sicher, daß wir alle von den offenen Fenstern wegbleiben würden - daß wir alle zu den Überlebenden zählten. Heute glaube ich, daß Franny und ich damals nur an uns dachten, unsere Gedanken waren ein wenig zu egoistisch. Ich glaube, Franny hielt ihre Unverwundbarkeit für ansteckend - so denken bekanntlich die meisten Leute, die dazu neigen, sich für unverwundbar zu halten. Und ich versuchte damals, Frannys Gefühl so genau wie möglich nachzuempfinden.
Etwa um Mitternacht erwischte ich ein downtown fahrendes Taxi und fuhr damit
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