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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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verschwunden, und wir ließen das Auspacken fast eine Stunde lang sein, um nach ihr zu suchen. Sie saß in der Küche bei Mrs. Urick, die mit ihren Geschichten Lillys ganze Aufmerksamkeit gewonnen hatte; sie erzählte ihr von den verschiedenen Methoden, mit denen sie als kleines Mädchen bestraft worden war. Ganze Haarbüschel hatten sie ihr abgeschnitten, um sie zu demütigen, wenn sie vergaß, vor dem Essen die Hände zu waschen; sie mußte sich barfuß in den Schnee stellen, wenn sie einmal geflucht hatte; hatte sie etwas zu essen »stibitzt«, wurde sie gezwungen, einen Eßlöffel Salz hinunterzuschlucken.
    »Wenn du und Mutter weggeht«, sagte Lilly zu Vater, »dann laßt ihr uns aber nicht bei Mrs. Urick zurück, oder?«
    Frank hatte das beste Zimmer, und Franny beschwerte sich; sie mußte sich ein Zimmer mit Lilly teilen. Eine Türöffnung ohne Tür verband mein Zimmer mit dem Eggs. Max Urick demontierte seine Sprechanlage; wenn wir in sein Zimmer lauschten, bekamen wir nur ein Rauschen zu hören - als sei der alte Seemann immer noch draußen auf hoher See. Mrs. Uricks Zimmer blubberte wie die Töpfe hinten auf ihrem Herd - das Geräusch eines Lebens, das stets auf Sparflamme kochte.
    Wir warteten so aufgeregt darauf, daß mehr Gäste kamen und das Hotel New Hampshire offiziell eröffnet wurde, daß wir nicht stillhalten konnten.
    Vater scheuchte uns durch zwei Feueralarmübungen, um uns müde zu machen, aber es stimulierte uns eher und weckte unseren Erlebnishunger. Als es dunkel wurde, begriffen wir, daß der Strom im Haus noch nicht eingeschaltet war - und so versteckten wir uns voreinander oder geisterten mit Kerzen durch die leeren Räume und suchten einander.
    Ich versteckte mich in Ronda Rays Tagesraum im ersten Stock. Ich blies meine Kerze aus und ortete mit Hilfe meines Geruchsinnes die Schubladen, in denen sie ihre Wäsche für die Nacht verstaut hatte. Im zweiten Stock hörte ich einen Aufschrei Franks - er hatte im Dunkeln mit der Hand in eine Pflanze gegriffen - und in der Echokammer des Treppenhauses ein Lachen, das nur von Franny stammen konnte.
    »Tobt euch nur aus!« dröhnte Vaters Stimme aus unserer Wohnung. »Wenn erst Gäste hier sind, könnt ihr nicht mehr überall rumrennen.«
    Lilly fand mich in Ronda Rays Zimmer und half mir, Rondas Wäsche wieder in der Kommode zu verstauen. Vater erwischte uns, wie wir aus Rondas Zimmer kamen, und nahm Lilly mit in unsere Wohnung und brachte sie zu Bett; er war gereizt, weil er gerade versucht hatte, sich bei der Elektrizitätsgesellschaft telefonisch zu beschweren, daß sie uns noch keinen Strom lieferten, und dabei entdeckt hatte, daß auch unsere Telefone noch nicht angeschlossen waren. Mutter hatte sich bereit erklärt, mit Egg einen Spaziergang zu machen und vom Bahnhof aus anzurufen.
    Ich machte mich auf die Suche nach Franny, aber sie hatte sich unbemerkt in die Eingangshalle geschlichen; sie schaltete das ganze Haus auf ›Sendung‹ und machte eine Durchsage.
    »Achtung, Achtung!« tönte Franny. »Achtung, Achtung! Alles aus den Betten und zur Sexkontrolle!«
    Was ist denn eine Sexkontrolle? fragte ich mich, während ich die Treppen hinunter zur Eingangshalle lief.
    Frank bekam zum Glück die Durchsage nicht mit; er hatte sich in der Besenkammer im dritten Stock versteckt, wo keine Quatschkiste installiert war: von Frannys Aufforderung verstand er kein Wort. Wahrscheinlich dachte er, Vater scheuche uns noch einmal durch eine Feuerlöschübung; in seiner eifrigen Eile trat Frank beim Verlassen der Besenkammer in einen Eimer und machte eine Bauchlandung; er schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf, und seine Hand erwischte diesmal eine tote Maus.
    Wir hörten ihn wieder kreischen, und im dritten Stock machte hinten im Flur Max Urick seine Tür auf und brüllte, als sei er draußen auf dem Meer und versinke in den Fluten.
    »Laß endlich das verfluchte Gekreische, sonst häng ich dich an den kleinen Fingern an der Feuerleiter auf!«
    Das verdarb Frank die Laune; er erklärte, unsere Spiele seien »kindisch«, und ging auf sein Zimmer. Franny und ich nahmen den Elliot Park ins Visier; wir standen am großen Eckfenster in 2 F, eigentlich Coach Bobs Schlafzimmer, aber Bob war noch auf einem Sportlerbankett, einer Siegesfeier für alle bisherigen Spiele - nur eines stand noch aus.
    Der Elliot Park war verlassen, wie gewohnt, und die unbenutzten Einrichtungen auf dem Kinderspielplatz wirkten im trüben Schein der einzigen Straßenlaterne wie

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