Das Hotel
hatte sie gleich zwei Menschen verloren. Ihren Mann und ihre Mutter.
Letti hatte nicht vor, ihrer Mutter wegen ein zweites Mal zu weinen.
Sie holte durch die Nase tief Luft und atmete langsam durch den Mund wieder aus. Wie es ihr beigebracht wurde. Während ihrer gesamten Jugend hatte Florence sie allen möglichen Lehrern, Trainern und Senseis für alle erdenklichen Sportarten, Kampfkünste und Disziplinen ausgesetzt. Florence glaubte, dass sie ihre Tochter erzog, indem sie diese bei einer Yogaklasse oder vor einem Dojo absetzte. Aber keiner der Lehrer konnte die Leere in Letti füllen, und niemand brachte ihr bei, wie sie mit Ärger und Groll fertigwerden sollte.
Letti atmete erneut tief ein und verlangsamte so ihren Herzschlag. Das Zimmer roch merkwürdig, und das Dekor war noch viel schräger.
Verdammt, dieses Hotel ist unheimlich.
Falls Letti vorher keine Ahnung gehabt hatte, wie Grover Cleveland ausgesehen hatte, so würde sie jetzt bestimmt von ihm träumen. Überall hingen oder klebten Bilder, Zeichnungen und Fotos des dicken Präsidenten mit dem Schnurrbart – auf den Vorhängen, den Wänden, der Tagesdecke, den Türen und selbst auf den Lampenschirmen.
Diese Eleanor Roosevelt hat ein Problem. Verdammt, sie hat einen ganzen Katalog von Problemen.
Letti zog sich bis auf den Schlüpfer aus und ließ die Kleider einfach auf dem Boden liegen. Sie war kaputt, hundemüde, aber ihr Kopf wollte dennoch nicht abschalten. Ob sie heute Nacht überhaupt Schlaf finden würde?
Sie überlegte, ob sie noch duschen sollte, doch sie war viel zu kaputt, um sich länger auf den Beinen zu halten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fühlte sie sich so halb nackt nicht wirklich wohl.
Letti verschränkte die Arme über den Brüsten und dachte darüber nach. Es hatte nichts mit Schamgefühl zu tun. Sie hatte einen fitten Körper und war stolz darauf.
Was Letti spürte, hatte mit Angst zu tun.
Aber wovor sollte ich Angst haben? Ich bin allein.
Trotzdem öffnete sie die Tasche neben ihrem Bett und zog sich ein T-Shirt über. Sie sah sich erneut im Zimmer um, entdeckte jedoch nirgendwo lechzende Männer. Sie holte ihre Kulturtasche hervor, ging ins Badezimmer und putzte sich die Zähne.
Das Bad war ebenfalls verrückt, sowohl was den Geruch als auch das Interieur betraf. Das große Poster von Grover Cleveland der Toilette gegenüber schien sie direkt anzustarren, und Letti verspürte den irrationalen Drang, ein Handtuch über seine Augen zu hängen.
Das Wasser aus dem Waschbecken hatte eine merkwürdige Farbe und schmeckte komisch. Letti hütete sich, es zu schlucken. Sie beeilte sich mit der Wäsche, kletterte rasch ins Bett und zog sich die Grover-Cleveland-Decke bis zur Nase. Automatisch streckte sie den Arm aus, um die Fernbedienung vom Nachttisch neben dem Bett zu nehmen, fand aber keine. Erst jetzt merkte sie, dass es keinen Fernseher gab.
Verärgert fragte sich Letti, ob sie überhaupt zu schlafen imstande sein würde. Normalerweise sah sie sich Dauerwerbesendungen oder Talkshows an, bis ihr die Lider schwer wurden. Die Stille im Zimmer war ihr viel zu laut.
Sie konnte natürlich auch aufstehen und zu Kelly hinuntergehen. Vielleicht hatte ihre Tochter einen Fernseher. Oder vielleicht würde ihr Kelly ihren iPod leihen. YouTube war ein kaum mehr als leidlicher Ersatz für ihre Lieblingssendungen, aber besser als nichts.
Letti schlug die Decke beiseite, als ihre Augen auf die Kommode fielen.
Ein Buch.
Ist schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal ein Buch in der Hand hatte.
Sie nahm es, schlug es auf und merkte, dass es sich nicht um ein normales Buch handelte, sondern um ein gebundenes Gästebuch. Auf dem Deckel stand fein säuberlich geschrieben: Das Rushmore Inn.
Letti hatte diese Art von Büchern schon oft gesehen. Schließlich war es nicht ihre erste Nacht in einem Hotel. Die Eigentümer ließen oft Gästebücher auf den Zimmern, sodass die Gäste ihren Aufenthalt kommentieren konnten. Neugierig nahm sie es und kletterte zurück ins Bett.
Die erste Seite war dicht in einer sauberen Handschrift beschrieben:
23.10.1975
Das Hotel ist mitten im Wald versteckt, aber Henry und ich fanden die Zimmer und die Eigentümerin recht charmant. Henry ist noch nicht von der Jagd zurückgekehrt. Obwohl ich hoffe, dass es ihm gefällt, bete ich, dass er keine dieser fürchterlichen Vögel mitbringt. Es bereitet immer so viel Arbeit, sie herzurichten, und in unserem Ehegelübde gab es nichts über
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