Das Hotel
Federnrupfen.
Von unten dringt ein Geräusch herauf. Vielleicht ist es Henry. Vielleicht überrasche ich ihn, wenn ich mich nackt ins Bett lege.
Er kommt gerade den Flur entlang. Ich werde mich auszi …
Der letzte Satz endete mitten im Wort. Letti blätterte um, aber die nächste Seite war herausgerissen. Der nächste Eintrag in einer anderen Handschrift lautete:
19. Mai, 1979
Meine zweite Nacht hier. Mir gefällt es nicht. Der komische Geruch, und jetzt höre ich ein Geräusch, das von hinter den Wänden zu kommen scheint. Noch zwei Tage, ehe Blake und die anderen vom Klettern zurückkommen, und ich wünsche mir fast, ich wäre mit ihnen gegangen. Marcus’ Frau ist krank geworden. Sie lallt, als ob sie betrunken wäre, besteht aber darauf, keinen Tropfen angerührt zu haben, und eine Fahne hat sie auch nicht. Ich hoffe, dass Blake bald zurückkehrt.
Dann wieder einige herausgerissene Seiten.
Das ist ganz schön unheimlich.
Letti lauschte. Würde sie etwas hinter den Wänden hören? Aber es herrschte totale Stille. Obwohl sie das Gästebuch beunruhigte, fuhr sie fort, den nächsten Eintrag zu lesen.
24. Juli 1984
Ich kann es kaum fassen, dass wir das Hotel überhaupt gefunden haben. Es ist so sehr im Wald versteckt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie es rentabel zu führen ist. Insbesondere da unser Zimmer umsonst ist – und wir scheinen die einzigen Gäste zu sein. Meine Frau meint, hierher käme niemand, weil es so kitschig sei, aber ich finde es einfach nur bizarr. Falls das mit dem neuen Job klappt, werde ich gut verdienen, und wir können uns bald eine echte Hochzeitsreise leisten. Doch ich liebe sie, und insofern ist es mir egal, wo wir sind, solange es ein Bett gibt. Letzte Nacht jedoch hätte ich schwören können, dass etwas UNTER unserem Bett war.
Letti kam sich zwar blöd vor, aber gleichzeitig war ihr nicht ganz geheuer zumute. Sie lehnte sich über die Bettkante, zog die Decke hoch, biss die Zähne zusammen und wagte einen Blick unter das Bett.
Nichts.
Florence würde sich über meine Paranoia lustig machen. Reiß dich zusammen!
Sie wollte das Gästebuch beiseitelegen, doch das würde ein Eingeständnis ihrer Angst bedeuten. Also blätterte sie einige Seiten weiter und überflog die nächsten Einträge. Das Ganze änderte sich nicht. Immer waren es kurze, unheimliche Paragrafen, denen herausgerissene Seiten folgten.
14. August 1991
Paula ist immer noch völlig neben der Spur, nachdem sie angeblich ein » Monster« im Wald gesehen hat. Natürlich hat sie sich das eingebildet. Wir scheinen beide erkältet zu sein, obwohl wir kein Fieber haben. Ich kann es kaum erwarten, dass wir hier wieder verschwinden.
Zwei herausgerissene Seiten.
Juni 1998
Barry ist noch nicht zurück. Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Ich höre Geräusche. Ich hoffe, dass unser Auto bald repariert ist, damit wir endlich verschwinden können.
Wieder fehlte eine Seite.
19.2.2002
Mitten in der Pampa. Nicht mal joggen kann man hier. Was soll ich bloß machen?
Fehlende Seite.
Juni 2005
Hier ist alles scheiße. Wir werden alle sterben.
Wieder fehlten Seiten. Letti blätterte weiter bis zum letzten Eintrag.
12. Juni 2007
Absolut fertig. Training für Ironwoman ist das härteste, aber auch befriedigendste, das ich je gemacht habe. Ich wünschte, ich hätte noch ein Zimmer im Event-Hotel gekriegt, aber das hier geht auch. Und der Preis ist unschlagbar, obwohl es irgendwie unheimlich ist. Ich …
Nach dem » Ich« war der Strich des Kulis nach unten gerutscht, als ob jemand die Schreiberin angestoßen hätte. Und dann, ganz unten …
Braune Flecken. Wie Blutstropfen.
Letti ließ den Blick erneut durch das Zimmer schweifen und bekam eine Gänsehaut. Es musste sich um einen Streich handeln, einen Scherz für die Gäste. Aber Letti vermochte nicht zu lachen. Sie war völlig verunsichert.
Ich muss nach Kelly schauen.
Sie wollte das Gästebuch gerade zuschlagen und aus dem Bett steigen, als sie einen Punkt bemerkte – einen schwarzen Punkt, der von der anderen Seite hindurch drang.
Letti blätterte nach dem letzten Eintrag noch einmal um. Auf der nächsten Seite stand mit schwarzem Wachsstift in Kinderhand geschrieben:
ich heiße grover.
das ist mein zimmer
Letti kratzte mit dem Fingernagel über die Schrift, sodass er schwarz wurde. Der bekannte Geruch von Malkreide stieg ihr in die Nase und erinnerte sie an die Tage, als Kelly noch klein gewesen war. Aber Kellys Buchstaben sahen nie so … unheimlich
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