Das Hotel
Jogginghose. Sie machte einen verstörten Eindruck, und Letti konnte sich nicht erinnern, sie jemals in einem solchen Zustand gesehen zu haben.
» Also. Du wolltest reden. Ich höre.«
Die ältere Frau schien verwirrt zu sein. Letti fragte sich einen Augenblick lang, wie es wohl wirklich um den Gesundheitszustand ihrer Mutter stand. Schließlich war das der eigentliche Grund, warum sie zu ihnen zog.
» Ich will, dass du es verstehst, Letti.«
» Was soll ich verstehen, Florence?« Letti verschränkte die Arme. Sie wollte es ihrer Mutter nicht allzu leicht machen.
» Ich will, dass du verstehst, warum ich nicht zur Beerdigung deines Mannes gekommen bin.«
» Ich weiß, warum du nicht gekommen bist, Florence. Du hast dich irgendwo in Bosnien oder Äthiopien herumgetrieben, um deine Dinge zu machen.«
» Ich war in Mumbai. Ich habe während der schlimmen Überschwemmungen geholfen. Ehrenamtlich, Letti. Wir haben Leben gerettet. Peter – Gott hab ihn selig – war schon tot. Es gab nichts mehr, was ich für ihn tun konnte.«
Sie versteht es einfach nicht und wird es wahrscheinlich nie verstehen.
» Peter hat dich nicht gebraucht, Florence. Ich habe dich gebraucht.«
Florence hob eine Augenbraue. » Willst du damit sagen, dass Trauer wichtiger ist, als einen Damm zu bauen, der dreihundert Menschen das Leben rettet?«
Letti musste sich konzentrieren. Sie wollte nicht, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. » Ich war am Boden zerstört. Ich habe meine Mutter gebraucht.«
» Ich habe dich so erzogen, dass du nicht von mir abhängig bist.«
» Du bist unmöglich.« Letti drehte sich um und wollte bereits davonstürzen, als ihr Florence eine leichte Hand auf die Schulter legte.
» Was soll ich deiner Meinung nach sagen, Letti? Dass ich das Falsche getan habe? Du bist stark, das warst du schon immer. Peters Tod war tragisch. Aber ich wusste, dass du darüber hinwegkommen würdest. Man hat mich dringender in Mumbai gebraucht.«
Ich verschwende hier meine Zeit. Sie stirbt, ehe sie sich entschuldigt.
Aber sie hat recht. Ich bin stark. Und ich werde nicht zu weinen anfangen.
Letti wandte sich ihrer Mutter zu und merkte, wie sich ihre Miene verhärtete. » Wenn dir Mumbai so verdammt wichtig ist, warum bist du dann nicht dahin gefahren, als du gehört hast, dass du Krebs hast?«
Florence zuckte zusammen. Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie Letti bereits. Doch jetzt wollte, jetzt konnte sie nicht mehr aufhören.
» Aber das bist du nicht. Du bist zu mir gekommen, Florence. Zu mir und Kelly. Ich dachte, du wolltest das Vergangene aufarbeiten, deine Enkelin kennenlernen. Aber der wahre Grund ist Geld – oder etwa nicht? Du hast dein gesamtes Geld an Fremde gegeben und ihnen geholfen. Jetzt brauchst du einen Ort zum Sterben, und mein Haus ist für dich lediglich ein kostenloses Hospiz.«
Florence verzog keine Miene, aber Letti konnte einen Riss in dem undurchdringlichen Gesicht ausmachen. » Oh … Letti … Glaubst du das wirklich?«
Letti biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. » Wir haben dich gebraucht, Florence. Kelly und ich. Aber du warst nicht für uns da. Jetzt brauchst du uns, und wir sind für dich da. Vielleicht hat Mumbai eine große Statue für die heilige Florence, die Retterin, gebaut. Aber ich wollte nicht von einer Heiligen aufgezogen werden. Ich wollte eine Mutter.«
» Und ich war keine Mutter, wie du sie wolltest«, stellte Florence fest.
» Mütter hegen und pflegen«, sagte Letti und spürte, wie eine Träne ihre Wange hinunterlief. » Mütter unterstützen. Mütter kommen zu einer gottverdammten Beerdigung, wenn ihre Töchter ihren Mann verlieren.«
Florence schwieg. Sie stand stoisch da wie immer.
Es ist, als ob ich mit einer Statue rede .
» Es ist mir wichtig, dass du verstehst, warum ich so gehandelt habe, Letti.«
» Ich weiß, warum du so gehandelt hast, Florence. Aber verstehen werde ich es nie. Und ich werde es dir auch nie verzeihen.«
Florence öffnete den Mund, sagte aber nichts.
Punkt, Satz, Sieg.
Warum aber fühlte sie sich, als hätte sie etwas verloren?
Letti verließ das Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Sie ging zum Grover-Cleveland-Zimmer und öffnete die Tür. Für einen kurzen Augenblick wollte sie nachgeben und zu weinen anfangen. Doch sie riss sich zusammen und schluckte das Bedürfnis herunter. Das letzte Mal, als sie geweint hatte, war bei Peters Begräbnis gewesen. An dem Tag
Weitere Kostenlose Bücher