Das Hungerjahr - Roman
darin, ums Dasein zu kämpfen und sich abzuhärten«, sagt Matias und fährt nach kurzem Überlegen fort: »Aber wenn es keinen Gott gibt, wie du sagst, gibt es auch kein Schicksal. Dann ist alles nur Zufall.«
»Und aus Zufall stirbt ausgerechnet die arme Bevölkerung oder geht betteln? Hat der Zufall Johan dahingerafft, aber uns verschont?«
»Da siehst du es. Du glaubst selbst nicht an den Zufall. Dein Glaube steht jetzt auf dem Prüfstand. Vielleicht bist du Hiob«, sagt Matias.
Teo würde ihn am liebsten schlagen. Das Einzige, das Gott ihm nehmen könnte, wäre Cecilia. Nur die Liebe einer Hure kann man ihm entreißen, oder besser gesagt, die Liebe zu einer Hure.
Er hängt nicht am Rockschoß des Lebens und fleht um ein Stück Brot. Er weiß nicht einmal, welche Kraft jene Menschenmasse, die man das Volk nennt, dazu bringt, genau dies zu tun. Für Teo ist das ein großes, unbekanntes Mysterium. Das Mysterium des Lebens, und das kann man nur durch den Tod begreifen.
Matias Högfors hat seinen Spaten aufgehoben. Er stützt sich darauf und blickt ins offene Grab.
Teo schiebt die Pelzmütze nach hinten und wischt sich mit dem Handschuh den Schweiß von der Stirn.
»Warum hat man nicht bis zum Frühling warten können?«
»Wenn man stirbt, stirbt man, da kann man nicht auf besseres Wetter warten«, erwidert Matias.
»Ich meine seine Frau. Warum hat sie mit dem Begräbnis nicht gewartet?«
»Ach so. Vielleicht glaubt sie nicht, dass es noch einmal Frühling wird.«
»Immer kommt ein neuer Frühling, auch nach dem strengsten Winter«, mischt sich der Pfarrer ins Gespräch ein.
Er hat Frau Berg schwankend inmitten der Schneeflocken zurückgelassen und späht ins Grab, als wollte er kontrollieren, ob Teo und Matias mit den Steinen auch kein Loch in den Sargdeckel gemacht haben, aus dem die Seele weichen und für den Pfarrer unerreichbar entfliehen könnte.
»Und die Welt wird wieder erblühen?«
»Ganz richtig«, antwortet der Pfarrer.
Er nickt billigend. Der Sarg ist heil, und es liegt genügend Erde als Gewicht darauf. Im Pfarrhaus wartet der Kaffee.
»Die Frau wollte Johan vor ihrer Abreise beerdigen. Ich werde sie über den Winter nach Kokkola bringen. Sie hat hier nichts mehr, und sie kann nicht einmal Finnisch«, erzählt der Pfarrer.
Neben dem Friedhofszaun ragen nackte Bäume auf wie gefrorene Blitze, die versucht haben, von der Erde aus im Himmel einzuschlagen. Teo wirft zum Abschied noch einen letzten Blick aufs Grab und sieht Frau Berg mit dem Spaten einen großen Erdklumpen in die Grube stemmen. Matias eilt zurück, nimmt der Frau den Spaten ab und macht mit dem Zuschaufeln des Grabes weiter. Die Frau steht mit hängenden Schultern daneben und sieht zu, wie die Erde in die Grube fällt.
Teo winkt zwei dünne Männer, die am Friedhofstor stehen, zu sich. Er gibt ihnen Papiergeld. Der Größere steckt den Schein in die Brusttasche seines Mantels.
»Ich hab es gewusst, verdammt«, schnaubt der andere Mann seinem Gefährten zu, »habe ich es nicht gesagt?«
Matias bietet Frau Berg den Arm und führt sie zum Friedhofstor hinaus.
Teo schaut zum Himmel. Er möchte dort ein Zeichen von Johan sehen – oder wenigstens von Gott. Aber es liegt ein grauer Teppich über dem Himmel. Sollte es dahinter einen Gott geben, so schaut er nicht auf Finnland, und Johan ist nicht seinem Grab entstiegen, sondern liegt weiterhin in der Holzkiste, und Steine fallen auf den Deckel, dass es dröhnt wie Kirchenglocken und erinnern an das Ende eines Lebens. Danach kommt nichts mehr als ein endloser Schlaf ohne Träume.
Dort ruht Johan Berg, außer dass dort kein alter Freund ruht, sondern etwas liegt, was einmal Johan Berg gewesen ist. Das Einzige, was von dem Freund noch übrig ist, ist das dröhnende Lachen, das er vor Jahren in betrunkenem Zustand an einem Tisch im Grünen Hof erschallen ließ. Es klingt in Teos Kopf nach, es hallt dort noch immer wider, allerdings immer schwächer.
Und wenn Teo es irgendwann nicht mehr hört, ist von Johan nichts mehr übrig.
Nach dem Kaffee zünden sich Matias und Teo in bequemen Sesseln ihre Pfeifen an. Der Kachelofen im Pfarrhaus haucht eine Wärme aus, die einen kurz das kalte Grab vergessen lässt.
Teo erzählt Matias von der kleinen Kate, in der er auf dem Weg hierher Station gemacht hat. Der Hausherr habe ihn beim Eintreten kaum unter den Augenbrauen heraus angeschaut.
Teo versuchte mit dem Mann in dessen Sprache zu reden. Als er keine Antwort bekam, legte er ihm einen
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