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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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und zeigt mit einem langen, dünnen Finger auf sie.
    »Und da ist die Nächste. Bettlerin, Fleischdiebin, Räuberin, Hure!«, ruft sie aus.
    Marja drückt Juho an sich, viel zu fest, er will sich von der Hand seiner Mutter befreien, aber es gelingt ihm nur, zwischen den Fingern hindurchzugucken. Er sieht, wie sich der Mann mit Hilfe seiner Hände auf der Straße weiterschleppt. Hellrotes Blut rinnt aus seinem Mund.
    Die Verfolger drehen sich zu Marja um. Der Schnauzbärtige blickt nur kurz über die Schulter, dann beobachtet er wieder das Kriechen des geschlagenen Mannes.
    Die Blicke sind leer, sie strahlen Kälte aus. Bei der Frau mit dem Kopftuch geht der Mund auf und zu, Marja kann die Zähne sehen. Aus dem frostigem Hauch steigen Wörter auf, aber die Stimme dazu hört man nicht. Langsam fängt die Stadt ringsum an, sich zu drehen. Der Mann im Wolfspelz tritt näher.
    »Lassen wir sie in Frieden. Zumal sie ein Kind bei sich hat.«
    Die Worte des Mannes öffnen Marja die Ohren, nach dem tauben Moment hört sie nun wieder die Stadtgeräusche. Sie dröhnen in der Leere ihres Kopfes, sie stechen hinter den Augen, finden aber schließlich ihren Platz. Der Mann im Wolfspelz sagt, auf der anderen Seite des Flusses, unterhalb des Kirchberges, sei das Armenhaus. Dort solle sie hingehen.
    Marja kann jedoch ihre Füße nicht bewegen. Sie schaut in die Richtung, in die der Mann im Wolfspelz weist, dann auf dessen Hand und schließlich ins Gesicht. Zugleich begreift sie, wie schwachsinnig sie aussehen muss. Dann fängt sie an, vor Müdigkeit zu schlottern.
    Der Mann im Wolfspelz nimmt Juho auf den Arm. Marja bekommt Angst, sie versucht den Mann zu hindern, bringt aber nur eine kleine Handbewegung in dessen Richtung zuwege.
    »Ich werde euch hinbringen.«
    Es dauert eine Weile, bis Marja die Worte des Mannes erfasst. Sie beruhigt sich, ihr Körper hört auf zu zittern. Die Frau mit dem blauen Kopftuch ist inzwischen an den Mann herangetreten und mustert Juho neugierig.
    »Der Herr Gustafsson sollte lieber aufpassen. Kann sein, dass der Junge die Krankheit hat. Den Typhus.«
    »Kann sein. Er kann immer da sein. Der Typhus.«
    Er dreht sich um und geht los. Juho streckt die Hand nach seiner Mutter aus.
    »Nun komm schon!«, befiehlt Gustafsson.
    Marja folgt dem Fäustling, den Juho nach ihr ausstreckt. Beim Überqueren der Kreuzung schaut sie auf den Dieb, der noch immer auf der Straße liegt. Der Schnauzbärtige geht mit dem Fleischbrocken unterm Arm davon. Die Frau mit dem blauen Kopftuch läuft ihm und dem dritten Mann hinterher. Sobald sie die beiden Männer eingeholt hat, blickt sie Marja und Gustafsson nach und scheint den Männern dabei etwas zu erklären. Sie zupft den Schnauzbärtigen sogar am Ärmel, aber die beiden interessieren sich mehr für den Fleischbrocken als für das, was die Frau ihnen mitteilen will.
    Inzwischen haben sich neugierige Menschen um den Dieb versammelt. Man hört leises Lachen in der Menge. Marja sieht, wie ein kleiner Junge den Dieb mit Pferdemist bewirft. Der gefrorene Pferdeapfel trifft die Wange des Mannes. Marja gerät ins Taumeln, sie spürt den Treffer an der eigenen Wange. Aber der Dieb spürt ihn nicht mehr, er atmet nur noch Blut.
    »Das soll dir eine Lehre sein. So ergeht es einem Dieb. In solchen Zeiten wird es nicht geduldet, dass einer Essen stiehlt. Alle haben den gleichen Hunger. Kommen Bettler, gibt man ihnen, wenn man etwas hat«, sagt Gustafsson. »Merke dir das, damit du nicht in Versuchung kommst! Es sei dir eine Lehre.«
    Marja sieht das Gesicht des Mannes nicht, es kommt ihr vor, als spräche ein lebloser Wolfspelz zu ihr. Ihr wird auch nicht klar, ob die Stimme freundlich oder barsch ist. Sie gibt sich Mühe, einen Laut auszustoßen, damit der Mann weiterredet. Das Reden eines anderen Menschen tut ihr gut. Wenn man sich anstrengen und aufs Zuhören konzentrieren muss, vergisst man kurz den Hunger und die Kälte. Ganz gleich, was der andere sagt, wenn er nur das Wort an sie richtet. Da erinnert man sich, dass es noch andere Menschen auf der Welt gibt und dass die Menschen noch miteinander reden. Und eines Tages werden sie vielleicht auch wieder über etwas anderes reden als über Brot, über dessen Mangel, über den Hunger und über Krankheiten.
    Sie würden über die Ankunft des Frühlings reden, über das zurückweichende Eis. Dass einer auf dem Pyhäjärvi einen Singschwan gesehen hat, dass der Wasserschlitten von Verneri Lenkola vom Hochwasser weggespült worden ist

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