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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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verschwindet.
    Die ganze Fahrt über bleibt die Sonne grau verhangen. Sie kommen an ein Feld. Die beschneiten Bäume werfen einen grauen Schatten auf seine Ränder, wie an der Grenze zwischen dem Land der Toten und dem Land der Lebenden. Marja vertraut dieser Grenze nicht mehr. Der Schatten verblasst immer mehr, bis er die weiße Leere nicht mehr innerhalb der Grenzen halten kann und zwei Welten zu einer werden.
    Mitten auf dem Feld steht ein bretterarmes graues Gebäude, das der Wind unablässig verlockt mitzufliegen. Retrikki lenkt den Schlitten auf die Scheune zu. Marja bemerkt weiter weg am Waldrand einige verlassen wirkende Wohnstätten.
    Retrikki steigt vom Schlitten und öffnet das Scheunentor. Marja sieht, dass drinnen Menschen schlafen. Sie kommt nicht dazu, sich darüber zu wundern, denn Retrikki verkündet bereits, Mataleena bleibe hier.
    »Hier sind noch mehr, die auf den Segen warten.«
    Berg dreht sich zu Marja um und verspricht, das Mädchen beizeiten angemessen unter die Erde zu bringen.
    »Ins Massengrab wird man sie werfen«, schreit Marja auf.
    »Zweifellos«, gibt Berg zu.
    »Kein Name wird auf dem Kreuz stehen.«
    Berg und Retrikki tragen Mataleena auf dem Brett in die Scheune. Marja will nicht vom Schlitten steigen.
    »Wo kommt Mataleena hin?«, fragt Juho.
    »Zum Vater«, antwortet Marja.
    »Ich will auch in die Scheune zum Vater«, sagt Juho.
    Marja hält ihm sanft die Hand vor den Mund.
    »Mataleena geht zum Vater, Juho bleibt bei der Mutter. Sonst wäre die Mutter ja alleine.«
    Retrikki und Berg kehren zurück, die Fahrt geht sofort weiter.
    Marja starrt auf die immer kleiner werdende Scheune. Sie denkt an ihre Tochter, die sie darin zurückgelassen hat, und die dort auf dem Leichenbrett liegt, aber es kommen keine Tränen. Die Trauer ist eingeschlossen, verborgen im Ei einer Schellente, das Marja nicht finden kann. Auf dem Feld stiebt der Schnee auf, oder aber es stiebt in ihrem Inneren.
    Nach einiger Zeit hält der Schlitten an. Doktor Berg sagt etwas zu Marja, gibt ihr die Hand, und Marja nickt. Erst als der Schlitten wieder mit einem Ruck anfährt, merkt sie, dass der Doktor vor einem kleinen Gutshaus zurückgeblieben ist.
    Vom Haus des Doktors führt die Straße zum Dorf hinunter. Retrikki fährt bis vor die Kirche.
    »Hier setze ich euch ab. Von hier müsst ihr auf eigene Faust weiterkommen. Ich glaube allerdings nicht, dass ihr es je bis nach Sankt Petersburg schaffen werdet. Am klügsten wäre es, dorthin zu gehen, wo ihr hergekommen seid«, redet Retrikki vor sich her, dann ruft er ein kurzes Ade und setzt seinen Wallach mit einem Schnalzen in Bewegung.
    Marja schaut auf den Kirchturm: ein kraftloser, dünner Finger, der vorwurfsvoll zum Himmel zeigt. Dann nimmt sie Juhos Hand, und sie machen sich auf den Weg. Bei den letzten Häusern bleibt Marja stehen. Sie kennt den Namen des Dorfes nicht. Wo ist sie? Wie heißt der Ort, an dem Mataleena zurückbleibt? Sie hat ihr Kind in die Namenlosigkeit gebracht, aus der es nicht einmal dem Namen nach eine Rückkehr ins Buch des Lebens gibt.
    Marja starrt auf die leere Straße vor sich und drückt Juho an sich. Eine Bettlerschar zieht vorüber, sie schließen sich an.

DER SENATOR
    E s sind die Gespenster dieses Winters: die Schneeskulpturen, die der Wind auf der vereisten Meeresoberfläche mit roher Kraft formt. Das Schiff ist nicht gekommen, der Winter kam, ohne Vorwarnung, in einer Nacht.
    »Zwecklos, nach meinem Gewissen zu fragen. Ich weiß schon, wer die Gespenster sind, die der schneidende Wind vor sich hertreibt. Schließlich habe auch ich ein Kind begraben müssen.«
    Der Senator spürt als Antwort einen kalten Hauch auf dem Gesicht.
    Den ganzen vorherigen Tag hat er mit Blättern in der Bibel verbracht, mit dem Lesen der Voraussagungen Josefs von den sieben mageren und den sieben fetten Jahren. Inzwischen hat es viele schlechte Jahre hintereinander gegeben, aber fette Kühe sind am Horizont nicht zu sehen. Sind seine unermüdlichen Reden über die finnischen Wälder, aus denen der Wohlstand der Nation geschlagen werde, vergebens gewesen? Wird dieses Volk je zu mehr im Stande sein, als Rinde von den Bäumen zu reißen, um damit sein Brot zu verlängern?
    Einer muss in die Ferne schauen, über den Horizont hinaus. Zwischen den bleichen Geistern hindurch. Letzten Endes geht es immer ums Brot, wenn das jemand begreift, dann er. Er hat einen Sauerteig angesetzt, eine Kupfermünze groß, und dieser Teigansatz wird auch beim schlimmsten

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