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Das Hungerjahr - Roman

Das Hungerjahr - Roman

Titel: Das Hungerjahr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aki Ollikainen
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Petrus an der Himmelspforte.
    »Ihr könnt jetzt nicht weiter. Ich trau mich nicht, das Mädchen auf den Schlitten zu setzen, das überlebt es nicht … Ich versuche den Doktor aus dem Kirchdorf zu holen. Aber ob er wegen jedem Bettler bis in den Hinterwald fährt? Und es wird dauern; wer weiß, ob sie bis dahin überlebt.«
    »Mal nicht den Teufel an die Wand, sondern fahr endlich!«, zischt Hilta.
    »Es hilft nicht, wenn man es schön redet, man weiß, was kommt.«
    Retrikki schlägt die Tür hinter sich zu. Marja sucht mit ihrem Blick bei Hilta etwas, wenigstens eine geringe Hoffnung. Hilta starrt auf die Klinge der Sense über dem Türrahmen, bis sie den Schlitten draußen davonfahren hört.
    »Sie wird es überstehen. Das sind nur Magenkrämpfe … ein tüchtiges Mädchen, auch wenn es so dürr geworden ist«, sagt Hilta.
    Das Zittern ihrer Stimme schüttelt jedoch alle Hoffnungsreste aus Marjas Vorstellung. Sie setzt Juho ab und tritt zu Mataleena ans Bett. Hilta folgt ihr, nimmt die Wassertasse vom Tisch, hebt den Kopf des Mädchens an und gibt ihm vorsichtig zu trinken. Mataleena hustet, das Wasser spritzt ihr auf die Brust. Marja setzt sich auf den Bettrand und bittet Hilta, einen Lappen zu befeuchten. Damit tupft sie behutsam Mataleenas Gesicht ab.
    Endlich kommt Mataleena so weit zu sich, dass sie ein klein wenig trinken kann. Sie behält das Wasser jedoch nicht bei sich, sondern spuckt es neben das Bett und versinkt wieder in Bewusstlosigkeit.
    Die Abenddämmerung geht in die Dunkelheit über. Mataleena kommt erneut zu Bewusstsein. Diesmal versucht sie, etwas zu sagen, sie schaut ihre Mutter an und lächelt.
    »Vater hat mir Schellenten-Eier gebracht. Für mein Schwänchen, sagt er«, lacht Mataleena.
    Marja begreift, dass dieses Lachen von sehr weit her kommt. Innere Kälte packt sie. Sie spürt etwas, das sie nicht verstehen will.
    Da geht die Tür. Hilta springt auf und eilt den Ankömmlingen entgegen. Retrikki bleibt an der Kammertür stehen. Doktor Berg beugt sich über Mataleena.
    »Vater … Vater … Vater …«, haucht Mataleena.
    Dann tritt die dunkle Klarheit der Leere in ihre Augen.
    Doktor Berg schließt Mataleenas Augen. Er sieht müde aus. Mataleenas Blässe steckt ihn an, denkt Marja. Sie fährt zusammen, als der Doktor ihr die Hand auf die Schulter legt.
    »… vielleicht an einem bessern Ort«, hört Marja den Doktor seufzen.
    Vom Bauch aus breitet sich die Kälte in Marjas ganzem Körper aus, sie verwandelt sich in das Gefühl der Trauer und wischt alles andere beiseite, den Hunger, das Frieren, die Müdigkeit. Sie füllt den hohlen Leib mit schwerer Leere, die keinen Raum für etwas anderes lässt. Ein Salzteich liegt darin, voller schwarzem, leblosem Wasser. Ein Prachttaucher schwimmt in den Blick. Er verwandelt sich in eine Samtente, die versucht, aufzufliegen. Dann lässt ein Schneesturm alles gefrieren und leer werden, und der Vogel verschwindet. Nach dem Sturm ist alles weiß. Tot. Marja steht auf und geht zu Juho, der auf der Bank liegt und schläft. Sie nimmt den Kopf des Jungen in den Schoß und fällt ebenfalls in tiefen Schlaf.
    Grau kommt der Morgen. Retrikki, Doktor Berg und Marja gehen über den Hof zur Sauna, wo Mataleena allein auf der Pritsche liegt. Der Wind reißt Marja die alte Mütze ihres Mannes vom Kopf. Retrikki betritt die Sauna.
    Doktor Berg bleibt im Türrahmen stehen. Marja schaut auf den Mantel des Doktors. Die Wangen des Mannes sind knochig, aber man sieht an den Kleidern, dass er einmal mehr Umfang hatte. Er hat Gewicht verloren. Auch die besseren Leute darben, denkt Marja. Der Trost ist jedoch von kurzer Dauer, denn sie begreift: Wenn die besseren Leute schon kein Brot haben, wie soll es dann erst für das arme Volk reichen?
    Die Gedanken an Brot und Hunger verschwinden, als Berg zur Seite tritt und sie Mataleena erblickt. Marja macht einen Schritt zurück, stolpert und fällt in den Schnee. Berg reicht ihr die Hand. Sein Gesicht hat die gleiche Farbe wie Juhanis Gesicht in dem Moment, bevor sie weggingen.
    Man hat Mataleenas Leichnam auf den Schlitten gelegt. Der Doktor sitzt neben Retrikki vorne auf dem Bock, Marja und Juho sitzen neben Mataleena. Retrikki schnalzt und schlägt mit den Zügeln, darauf setzt sich das Pferd in Bewegung. Hilta bleibt auf der Treppe stehen, sie winkt nicht. Ruckartig bindet sie sich das Tuch fester um den Kopf. Marja und Hilta schauen einander an, bis der Schlitten den Hang hinunterfährt und das Haus aus dem Blick

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