Das Imperium der Woelfe
Nacht wie unter jenen kleinen Halbkugeln, die man schütteln muss, damit Schnee auf eine Landschaft fällt.
Sie hatten die Festung durch einen Eingang in der Rue Père-Lachaise nahe der Place Gambetta betreten. Anna war mit Mathilde die Regenrinne neben dem Portal hochgeklettert, dann hatten sie sich über die Eisenspitzen der äußeren Mauer gezwängt. Der Abstieg auf der anderen Seite war einfacher gewesen: An dieser Stelle liefen Stromkabel an den Steinen nach unten.
Sie stiegen die Avenue des Combattants-Etrangers hinauf. Im Mondschein zeichneten sich die Gräber und Inschriften deutlich ab. Ein Bunker war den tschechoslowakischen Toten des Ersten Weltkrieges gewidmet. Ein weißer Monolith erinnerte an die belgischen Soldaten; eine kolossale Ähre mit zahlreichen Grannen wie auf einer Vasarely-Skulptur war die Ehrung für die umgekommenen Armenier...
Als Mathilde oben auf dem Hügel das große, von zwei Schornsteinen überragte Gebäude sah, begriff sie: Ein bisschen weißes Pulver zwischen all dem grauen... Das Columbarium mit den Urnengräbern. Mit seltsamem Zynismus hatte die Drogendealerin Anna ihre Heroinreserven zwischen den Urnen versteckt.
Im nächtlichen Halbdunkel glich das Gebäude einer cremefarbenen goldenen Moschee mit mächtiger Kuppel, überragt von den Schornsteinen, die wie Minarette wirkten, und umstanden von vier länglichen, kreuzförmig angelegten Gebäuden. Sie drangen in die Anlage ein und gingen durch die Beete, die von im Karree gepflanzten dichten Hecken begrenzt waren. Dahinter sah Mathilde die Galerien, die mit Fächern versehen und mit Blumen verziert waren. Sie musste an Seiten aus Marmor mit Inschriften und farbigen Siegeln denken.
Alles war still.
Kein Wächter in der Nähe. Anna lief bis ans Ende des Parks, wo die Treppe zu einer Krypta unter den Sträuchern verschwand. Am Ende der Treppe zeichnete sich ein gusseisernes Tor ab, das verriegelt war, und so suchten sie nach einem anderen Eingang. Statt eines Einfalls machte sich nach wenigen Sekunden ein Flügelschlagen bemerkbar. Sie blickten nach oben: Tauben gurrten, kratzten, sie kauerten in einer vergitterten Fensternische in zwei Metern Höhe.
Anna trat zurück, um die Höhe des Fenstergesimses abzuschätzen, und kletterte nach oben, indem sie die Füße auf die Ornamente der Metalltür setzte. Ein paar Sekunden später hörte Mathilde das kratzende Geräusch, mit dem das Gitter abgerissen wurde, und den kurzen Knall einer eingeschlagenen Scheibe.
Ohne nachzudenken, nahm sie denselben Weg.
Als sie oben angekommen war, ließ sie sich durch das Oberlicht gleiten. Als sie am Boden aufgekommen war, schaltete Anna das Licht an.
Die Kapelle war riesengroß, um einen quadratischen Brunnen verloren sich lange, in den Granit gehauene Galerien im Schatten der Dunkelheit. In regelmäßigen Abständen warfen Lampen einen schwachen Lichtschein auf den Innenraum. Sie näherte sich dem Rand des Brunnens, um den sich die tief unter der Erde liegenden Urnengräber in drei Etagen und zahlreichen Gängen gruppierten. Man hätte meinen können, auf eine unterirdische Stadt zu blicken, die um eine heilige Quelle gebaut war.
Anna stieg eine der beiden Treppen nach unten, und Mathilde folgte ihr. Je weiter sie hinunterstiegen, desto stärker war das Brummen des Belüftungssystems zu hören. Auf jedem Treppenabsatz wurde das Gefühl, in einen Tempel oder ein riesiges Grabmal einzutreten, erdrückender.
Im zweiten Kellergeschoss betrat Anna einen schwarz-weiß gekachelten Gang, der nach rechts führte, mit Hunderten von Fächern. Sie gingen langsam. Mathilde beobachtete die Szene merkwürdig distanziert. Manchmal fiel ihr ein Detail im Licht der Oberfenster auf, ein frischer Blumenstrauß am Boden, in Alufolie gewickelt. Eine Verzierung, ein Dekor, das ein Urnengrab von anderen unterschied. Wie die Grafik eines schwarzen Frauengesichts, deren Locken auf der Oberfläche des Marmors wallten. Auf der Inschrift stand: DU WARST IMMER DA. DU WIRST IMMER DA SEIN. Oder weiter hinten das Foto eines Kindes mit grauen Ringen um die Augen, das auf eine einfache Gipstafel geklebt war. Darunter stand mit Filzstift: DAS MÄDCHEN IST NICHT TOT, SONDERN ES SCHLÄFT NUR. (Matthäus)
»Hier«, sagte Anna.
Ein größeres Fach am Ende des Flurs.
»Los, den Meißel!«, verlangte sie.
Mathilde öffnete die Tasche, die sie über der Schulter trug, und zog das Werkzeug hervor. Mit einer einzigen Bewegung führte Anna den Stahl zwischen Marmor und Wand und
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