Das Imperium der Woelfe
Regierung ins Gefängnis gesperrt... Damals schreibt Türkes: >Ich bin im Gefängnis, doch meine Ideen sind an der Macht.< Die Grauen Wölfe werden bald freigelassen, und Türkes nimmt seine politischen Aktivitäten allmählich wieder auf. Andere Graue Wölfe folgen seinem Beispiel und kaufen sich einflussreiche Positionen. Sie werden Abgeordnete, Parlamentarier. Aber da sind noch die anderen: die Handlanger, die in Lagern ausgebildeten Bauern, die nichts als Gewalt und Fanatismus kennen.«
»Ja«, fuhr Matkowska fort, »und die sind wie Waisenkinder. Die Rechten sind jetzt an der Macht und brauchen sie nicht mehr. Türkes selbst kehrt ihnen den Rücken zu, er ist zu sehr damit beschäftigt, sein Ansehen zu vergrößern. Was sollen sie also tun, als sie aus dem Gefängnis kommen?«
Naubrel stellte seine Kaffeetasse hin und beantwortete die Frage. Das Duo war perfekt eingespielt: »Sie sind bewaffnet und haben Erfahrung - also werden sie Söldner. Sie arbeiten für den Meistbietenden, für die Armee oder den Staat. Nach dem, was die türkischen Journalisten sagen, mit denen wir gesprochen haben, ist das für niemanden ein Geheimnis: Die Grauen Wölfe wurden vom MIT, dem türkischen Geheimdienst, beschäftigt und haben die Führer der Armenier und Kurden umgebracht. Sie haben auch Milizen gebildet, Todesschwadronen. Doch vor allem werden sie von der Mafia benutzt: für das Eintreiben von Schulden, für Erpressungsgeschäfte, als Ordnungskräfte... Mitte der achtziger Jahre unterstützen sie den sich in der Türkei entwickelnden Drogenhandel. Manchmal treten sie sogar an die Stelle von Mafia-Familien und übernehmen deren Macht. Doch im Unterschied zu gewöhnlichen Kriminellen haben sie einen entscheidenden Vorteil auf ihrer Seite: Sie verfügen über gute Beziehungen zur politischen Macht, besonders zur Polizei. In den letzten Jahren kam es in der Türkei zu Skandalen, bei denen aufflog, dass die Verbindung zwischen Mafia, Staat und Nationalismus so eng ist wie nie zuvor.«
Paul dachte nach. Alle diese Geschichten waren für ihn vage und weit weg. Schon der Begriff Mafia brachte nichts Neues. Immer wieder dieselben Geschichten von Kraken, Komplotten, unsichtbaren Netzen... Was hieß das genau? Nichts von all dem brachte ihn näher an die gesuchten Mörder heran und auch nicht an die Frau, die diese suchten. Kein Gesicht, kein Name, mit dem man etwas anfangen konnte.
Als hätte er seine Gedanken erraten, brach Naubrel in ein zufriedenes Lachen aus: »Und jetzt kommen die Bilder!«
Er schob die Tassen beiseite und fuhr mit der Hand in einen Umschlag.
»Wir haben im Internet die Fotoarchive der Zeitung Milliyet durchgesehen, eines der größten Blätter in Istanbul. Wir haben das hier gefunden.«
Paul nahm das erste Foto zur Hand. »Was ist das?«
»Die Beerdigung von Alpaslan Türkes. Der alte Wolf starb im April 1997 im Alter von achtzig Jahren. Es war ein nationales Ereignis.«
Paul traute seinen Augen nicht. Tausende von Türken waren auf dieser Beerdigung gewesen, und die Bildlegende verkündete sogar auf Englisch: »Ein Umzug von vier Kilometern Länge unter dem Schutz von zehntausend Polizisten.«
Es war ein ernstes und wunderbares Bild, schwarz wie die Menge, die sich um den Trauerzug vor der großen Moschee von Ankara drängte, weiß wie der Schnee, der an diesem Tag in dicken Flocken vom Himmel fiel - und rot wie die türkische Flagge, die überall zu sehen war, bei den »treuen Anhängern« ...
Die folgenden Bilder zeigten die ersten Reihen des Trauerzuges. Er erkannte die frühere Premierministerin Tansu Ciller und schloss daraus, dass auch andere politische Würdenträger der Türkei gekommen waren. Er sah sogar Repräsentanten aus Nachbarstaaten in traditionellen Gewändern Mittelasiens, mit Fezen und weiten, mit Goldschnüren verzierten Mänteln.
Plötzlich kam Paul ein neuer Gedanke: Die Paten der türkischen Mafia hatten bestimmt auch an der Beerdigung teilgenommen. Die Oberhäupter der Familien aus Istanbul und bestimmter Regionen Anatoliens, um ihrem politischen Verbündeten die letzte Ehre zu erweisen. Womöglich war unter ihnen auch der Mann gewesen, der in diesem Fall die Fäden zog. Der Mann, der die Mörder auf Sema Gokalp gehetzt hatte...
Er sah sich die anderen Bilder an, auf denen man Einzelheiten erkennen konnte. So war auf den meisten roten Fahnen kein Halbmond - das türkische Emblem - zu sehen, sondern drei im Dreieck angeordnete Sicheln. Auf Plakaten war dazu passend die
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