Das Imperium der Woelfe
Hochdruckkammern aufzugeben und jedes winzige Detail über die Grauen Wölfe und deren politische Verstrickungen in Erfahrung zu bringen. Wenn Paul sich auf die »Beute« konzentrierte, dann wollte er auch die Jäger kennen lernen.
An der Schwelle der Café-Brasserie wartete er eine Weile und dachte über das neue Problem nach, das ihn seit ein paar Stunden quälte: das Verschwinden von Jean-Louis Schiffer. Seit dem Anruf um dreiundzwanzig Uhr hatte er nichts mehr von ihm gehört, und Paul hatte mehrmals vergeblich versucht, ihn zu erreichen. Er hätte sich das Schlimmste vorstellen, sich Sorgen um das Leben des Polizisten machen können, aber ganz im Gegenteil, er vermutete, dass das Schwein ihn überholt hatte. Sicher hatte Schiffer, mit allen Freiheiten ausgestattet, eine ergiebige Spur entdeckt, die er im Alleingang verfolgte.
Paul unterdrückte seine Wut und gab ihm im Geist eine letzte Frist: Bis zehn Uhr musste er sich gemeldet haben. Andernfalls würde er eine Fahndung veranlassen.
Er stieß die Tür der Brasserie auf und spürte, wie seine Stimmung trüber wurde.
Kapitel 58
Die beiden Ermittler warteten in einer Nische. Paul fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und versuchte, seinen Parka glatt zu streichen, bevor er zu ihnen hinüberging. Er wollte ungefähr dem Bild des Vorgesetzten entsprechen, der er war - nicht dem eines Clochards, der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte.
Er durchquerte den zu hell und zu neu eingerichteten Innenraum, von den Lampen bis zu den Stuhllehnen kam ihm alles falsch vor. Unechtes Zink, unechtes Holz, unechtes Leder. Eine ganze Kneipe aus Tinnef, mit dem vertrauten Geruch nach Alkohol und den üblichen Thekengesprächen, aber jetzt war sie noch leer.
Paul setzte sich seinen Ermittlern gegenüber, mit Freude musterte er ihre aufgehellten Gesichter. Naubrel und Matkowska waren zwar keine begabten Polizisten, doch sie strahlten noch immer die Begeisterung der Jugend aus, und sie ließen Paul an den Weg sorgloser Leichtigkeit denken, den er persönlich nie hatte einschlagen können.
Sie begannen ihn mit Einzelheiten ihrer nächtlichen Nachforschungen zu füttern. Nachdem er einen Kaffee bestellt hatte, unterbrach sie Paul: »Gut, Jungs. Kommt zur Sache.«
Sie tauschten einen einvernehmlichen Blick, und Naubrel öffnete eine dicke Akte mit Fotokopien. »Die Grauen Wölfe, das ist zuerst und vor allem eine politische Angelegenheit. Soweit wir verstehen, haben in den sechziger Jahren in der Türkei linke Ideen Fuß gefasst, genau wie in Frankreich. Darauf hat die extreme Rechte stark zugenommen. Ein Mann namens Alpaslan Türkes, ein Oberst, der mit den Nazis Geschäfte gemacht hatte, gründete eine Partei: die Partei der Nationalistischen Aktion. Er und seine Truppe haben sich als Mauer gegen die rote Gefahr präsentiert.«
Matkowska übernahm: »Innerhalb dieser offiziellen Gruppierung bildeten sich Untergruppen, die für junge Leute bestimmt waren. Zuerst an den Universitäten, dann auch auf dem Land. Die Kids, die dazu gehörten, nannten sich selbst Idealisten oder Graue Wölfe.« Er blätterte in seinen Notizen: »Auf Türkisch >Bozkurt<.«
Diese Informationen bestätigten, was Schiffer gesagt hatte.
»In den siebziger Jahren«, fuhr Nabrel fort, »spitzte sich der Konflikt zwischen Kommunisten und Faschisten zu. Die Grauen Wölfe griffen zu den Waffen. In manchen Gegenden von Anatolien wurden Trainingslager eröffnet. Die jungen Idealisten wurden indoktriniert, in Kampfsport ausgebildet, in Waffentechnik unterrichtet. Bauern, die nicht lesen und schreiben konnten, wurden zu bewaffneten, geübten, fanatisierten Mördern.«
Matkowska sah einen weiteren Stapel Fotokopien durch: »Von 1977 an schritten die Grauen Wölfe zur Tat: Bombenattentate, Schießereien an öffentlichen Orten, Morde an bekannten Persönlichkeiten... Die Kommunisten reagierten, und ein richtiger Bürgerkrieg begann. Ende der siebziger Jahre wurden in der Türkei jeden Tag fünfzehn bis zwanzig Menschen getötet. Es war blanker Terror.«
Paul fragte dazwischen: »Und die Regierung? Die Polizei? Die Armee?«
Naubrel lächelte: »Das ist es ja gerade. Die Militärs haben abgewartet, bis die Lage schlimmer wurde, um besser eingreifen zu können. 1980 kommt es zum Putsch. Er gelingt perfekt. Die Terroristen beider Seiten werden verhaftet. Für die Grauen Wölfe kommt das einem Verrat gleich. Sie haben gegen die Kommunisten gekämpft, und jetzt werden sie von einer rechts gerichteten
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