Das Imperium der Woelfe
treten heute für Wirtschaftsbündnisse ein, für eine Aufteilung natürlicher Ressourcen unter den türkischsprachigen Ländern. Wie das Öl zum Beispiel.«
Paul erinnerte sich an Männer mit Schlitzaugen und Brokatmänteln, die bei der Beerdigung von Türkes anwesend waren. Er hatte richtig gesehen: In der Welt der Grauen Wölfe stellte man sich einen Staat im Staat vor. Eine unterirdische Nation, die über den Gesetzen und Grenzen zu anderen Ländern stand.
Er zog die Fotos von der Beerdigung hervor. Von seiner Sitzhaltung als Buddha bekam er leichte Krämpfe. »Sagen Ihnen diese Bilder etwas?«
Ajik nahm das erste Foto und sagte leise: »Die Beerdigung von Türkes... Damals war ich nicht in Istanbul.«
»Erkennen Sie wichtige Persönlichkeiten?«
»Da sind sie doch alle zusammen! Die Regierungsmitglieder. Die Vertreter der rechtsextremen Parteien. Die Kandidaten für Türkes' Nachfolge... «
»Sind auch aktive Graue Wölfe dabei? Ich meine: bekannte Gauner?«
Der Diplomat sah sich die Bilder nacheinander an. Er schien sich zunehmend unwohl zu fühlen. Als riefe schon der Anblick dieser Männer in seinem Bewusstsein den Schrecken von früher wieder wach. Er streckte den Zeigefinger aus: »Der da: Oral Celik.«
»Wer ist das?«
»Ali Agças Komplice. Einer der beiden Männer, die 1981 versucht haben, den Papst zu töten.«
»Ist er in Freiheit?«
»Das türkische System. Vergessen Sie nie, welch enge Beziehungen es zwischen Grauen Wölfen und der Polizei gibt. Und auch nicht, wie korrupt unsere Justiz ist...«
»Erkennen Sie noch andere?«
Ajik schien zu zögern: »Ich bin kein Spezialist.«
»Ich spreche von bekannten Leuten. Clan-Chefs.« »Babas, meinen Sie?«
Paul merkte sich den Begriff, vermutlich das türkische Pendant zum »Paten«. Ajik sah sich die Fotos eingehender an: »Manche sagen mir etwas«, räumte er schließlich ein, »aber ich kenne ihre Namen nicht mehr. Figuren, die regelmäßig in der Zeitung waren, wenn es um Prozesse ging; Waffenhandel, Entführungen, Spielhöllen... «
Paul nahm einen Filzstift aus der Tasche: »Kreisen Sie die Gesichter, die Sie kennen, ein. Und schreiben Sie den Namen daneben, wenn er Ihnen einfällt.«
Der Türke malte mehrere Kreise, schrieb aber keinen Namen auf. Plötzlich hielt er inne: »Dieser da ist ein echter Star. Eine nationale Figur.«
Er zeigte auf einen großen Mann von mindestens siebzig Jahren, der am Stock ging. Eine hohe Stirn, graues, nach hinten gekämmtes Haar, vorstehende Kiefer, die an das Profil eines Elchs erinnerten. Eine beeindruckende Visage.
»Ismail Kudseyi. Vermutlich der mächtigste Buyuk-Baba Istanbuls. Ich habe kürzlich einen Artikel über ihn gelesen... Offenbar ist er noch immer dick im Geschäft. Einer der wichtigen Drogenhändler der Türkei. Fotos von ihm gibt es nur selten. Es heißt, er hätte einem Fotografen, dem es gelungen war, heimlich eine Serie von ihm zu machen, die Augen ausstechen lassen.« »Sind seine kriminellen Machenschaften bekannt?« Ajik brach in Lachen aus: »Natürlich. In Istanbul heißt es, das Einzige, was Kudseyi zu fürchten habe, sei ein Erdbeben.« »Hat er etwas mit den Grauen Wölfen zu tun?« »Und wie! Er ist ein historischer Führer. Die meisten heutigen Polizeioffiziere wurden in seinen Ausbildungslagern geschult. Er ist auch für wohltätige Aktionen bekannt. Seine Stiftung vergibt Stipendien an mittellose Kinder - immer auf der Basis eines stark übertriebenen Patriotismus.«
Paul fiel ein Detail auf: »Was hat er an den Händen?« »Narben von Verätzungen. Es heißt, er habe in den sechziger Jahren Auftragsmorde begangen. Er ließ die Leichen mit Natronlauge verschwinden. Auch so ein Gerücht.«
Paul spürte ein seltsames Prickeln in den Adern. Ein solcher Mann könnte den Mord an Sema Gokalp in Auftrag gegeben haben. Aber aus welchem Grund? Und warum er und nicht der, der in dem Trauerzug neben ihm stand? Wie sollte man aus zehntausend Kilometern Entfernung ermitteln?
Er sah sich die anderen mit Filzstift eingekreisten Köpfe an. Harte, verschlossene Gesichter mit schneeweißen Schnurrbärten...
Wider Willen empfand er so etwas wie Respekt vor diesen Herren des Verbrechens. Unter ihnen fiel ihm ein junger Mann mit struppigem Haar auf. »Und wer ist das?«
»Die neue Generation. Azer Akarsa. Ein Ziehkind von Kud-seyi. Durch Unterstützung von dessen Stiftung ist aus ihm ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er hat im Obsthandel ein Vermögen gemacht. Heute besitzt
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