Das Imperium der Woelfe
kupferfarbene Medaillons und Bilder bis unter die Decke, der Boden verschwand unter übereinander gestapelten Kelims, die dieselben Ockertöne variierten. Dabei passte dieses Dekor aus Tausend-und-eine-Nacht nicht im Geringsten zu Ajiks Persönlichkeit, einem modernen Türken von vierzig Jahren, der mehrere Sprachen beherrschte.
»Vor mir wohnte in dieser Wohnung ein Diplomat der alten Schule«, erklärte er in entschuldigendem Ton.
Er lächelte, beide Hände verschwanden in den Taschen seines perlgrauen Jogging-Anzugs: »Und was ist Ihr dringendes Problem?«
»Ich würde Ihnen gerne Fotos zeigen.«
»Fotos? Kein Problem. Kommen Sie rein. Ich habe gerade Tee gekocht.«
Paul wollte ablehnen, doch er musste sich schon an die Spielregeln halten.
Er setzte sich auf den Boden zwischen die Teppiche und bestickten Kissen, während Ajik, der im Schneidersitz Platz genommen hatte, den Tee in kleine bauchige, sich nach oben verjüngende Gläser goss.
Paul beobachtete ihn. Er hatte regelmäßige Gesichtszüge und kurz geschnittenes schwarzes Haar, das seinen Kopf wie eine Mütze umhüllte. Ein klares Gesicht, wie mit einem Rotring-Stift gezeichnet. Nur der Blick war beunruhigend, vor allem die asymmetrischen Augen. Die linke Pupille stand still, sie war immer starr auf das Gegenüber gerichtet, während die andere sich normal bewegte.
Ohne sein heißes Glas zu berühren, begann Paul: »Zuerst möchte ich mit Ihnen über die Grauen Wölfe sprechen.«
»Ein neuer Fall?«
Paul wich der Frage aus: »Was wissen Sie über die Organisation?«
»Das liegt alles sehr weit zurück, vor allem in den siebziger Jahren waren sie mächtig. Sehr gewalttätige Männer... « Bedächtig trank er einen Schluck. »Ist Ihnen mein Auge aufgefallen?«
Paul bemühte sich, überrascht auszusehen, als wolle er sagen: Jetzt, wo Sie mich darauf hinweisen...
»Doch, Sie haben es bemerkt«, sagte Ajik lächelnd. »Die Idealisten haben es zerstört. Auf dem Uni-Gelände, als ich auf Seiten der Linken kämpfte. Sie hatten ziemlich, wie soll ich sagen... harte Methoden.«
»Und heute?«
Ajik machte eine blasierte Handbewegung. »Die gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht als Terrororganisation. Sie brauchen keine Gewalt mehr anzuwenden, denn sie haben in der Türkei die Macht.«
»Ich spreche nicht von Politik, sondern von Handlangern, den Leuten, die für Verbrecherkartelle arbeiten.«
Ajiks Gesicht nahm einen ironischen Ausdruck an: »Alle diese Geschichten... Es ist schwer zu unterscheiden, was in der Türkei Legende und was Wirklichkeit ist.«
»Arbeiten manche von ihnen für Familien der Mafia, ja oder nein?«
»In der Vergangenheit ja, kein Zweifel. Aber heute...« Er legte die Stirn in Falten. »Warum diese Fragen? Gibt es einen Zusammenhang mit der Mordserie?«
Paul verfolgte seinen Gedanken weiter: »Nach allem, was ich erfahren habe, bleiben diese Männer, auch wenn sie für die Mafia arbeiten, ihrer Sache treu.«
»Das ist richtig. Im Grunde hassen sie die Gangster, in deren Dienst sie stehen. Sie sind überzeugt, einem höheren Ideal zu dienen.«
»Erzählen Sie mir von diesem Ideal.«
Ajik holte tief Luft und ließ seinen Brustkorb anschwellen, als nähme er einen langen Zug Patriotismus. »Die Rückkehr des Türkischen Großreiches, das Trugbild Turans.«
»Was ist das?«
»Es würde einen ganzen Tag dauern, Ihnen das zu erklären.«
»Bitte tun Sie es«, sagte Paul in dringlichem Ton. »Ich muss verstehen, womit sich diese Kerle beschäftigen.«
Ali Ajik stützte einen Ellbogen auf. »Der Ursprung des türkischen Volkes geht auf die Steppen Zentralasiens zurück. Unsere Vorfahren hatten Schlitzaugen und lebten in denselben Gegenden wie die Mongolen. Die Hunnen waren zum Beispiel Türken. Diese Nomaden zogen durch ganz Mittelasien und wurden etwa im zehnten Jahrhundert nach Christus mit Anato-lien vereint.«
»Aber was ist Turan?«
»Ein Großreich, das angeblich existiert hat und in dem alle türkischsprachigen Völker Mittelasiens vereint waren. Eine Art Atlantis, von dem die Historiker immer wieder geredet haben, ohne den geringsten Beweis für dessen reale Existenz erbringen zu können. Die Grauen Wölfe träumen von diesem verlorenen Kontinent. Sie träumen davon, Usbeken, Tataren, Uiguren und Turkmenen zu vereinigen... Ein riesiges Reich wiederzuerrichten, das vom Balkan bis zum Baikal reicht.«
»Ist dieser Plan realisierbar?«
»Natürlich nicht, aber dieses Trugbild hat eine reale Seite. Die Nationalisten
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