Das Imperium der Woelfe
Südosttürkei. In Paris seit September 2001.
Die zweite hieß Ruya Berkes. Sechsundzwanzig. Unverheiratet. Sie arbeitete zu Hause, in der Rue d'Enghien 58 - für einen gewissen Gozar Halman, ein Name, der Paul mehrmals in Aussageprotokollen untergekommen war. Ein Sklavenhändler, der auf Pelze und Leder spezialisiert war. Ruya Berkes kam aus Adana, einer großen Stadt im Süden der Türkei. Sie hatte erst acht Monate in Paris gelebt.
Die dritte war Roukiyé Tanyol. Dreißig Jahre. Unverheiratet. Konfektionsschneiderin bei Sürelik, im Passage de l'Industrie. Sie war im vergangenen August nach Paris gekommen, hatte keine Verwandten in der Hauptstadt und lebte inkognito in einem Frauenwohnheim in der Rue des Petites-Ecuries 22. Wie das erste Opfer war auch sie in der Nähe der Stadt Gaziantep geboren.
Aus diesen Informationen ergaben sich keine Hinweise auf das Geschehen, kein gemeinsamer Nenner, der verraten konnte, wie sich zum Beispiel der Mörder seinen Opfern näherte. Vor allem aber erweckten die Informationen die Frauen nicht zum Leben, gaben ihnen keinerlei Präsenz. Wegen ihrer türkischen Namen waren sie noch schwerer aufzuschlüsseln. Um sich davon zu überzeugen, dass es sie wirklich gegeben hatte, musste Paul sich noch einmal die Polaroidaufnahmen ansehen. Grobe Züge, glatte Konturen, die auf rundliche Körper schließen ließen. Er hatte irgendwo gelesen, dass das türkische Schönheitsideal diesen Formen und auch diesen Vollmondgesichtern nahe kam...
Schiffer studierte, Brille auf der Nasenspitze, noch immer die Fakten. Paul nippte zögernd an seinem Kaffee, noch immer war ihm übel. Das Geräusch der Stimmen, das Klingen von Gläsern und Metall bereiteten ihm Kopfschmerzen. Vor allem das Gerede der Säufer, die sich an der Theke festhielten, bohrte sich in sein Hirn. Er konnte diese runtergekommenen Typen, die hier standen und sich totsoffen, nicht ausstehen...
Wie oft war er losgegangen, um seine Eltern zu suchen, die allein oder zu zweit an der Theke standen? Wie oft hatte er sie aus Dreck und Zigarettenkippen hochgezogen und dabei gegen den Brechreiz angekämpft, um nicht auf seine eigenen Eltern zu kotzen.
Chiffre nahm die Brille ab und sagte: »Wir fangen bei der dritten Werkstatt an. Bei dem letzten Opfer. Das ist die heißeste Spur, da sind die Erinnerungen noch frisch. Danach arbeiten wir uns bis zur ersten vor. Dann kümmern wir uns um die Wohnungen, die Nachbarn, die Wege zur Arbeit. Irgendwo muss er sie ja aufgegabelt haben. Niemand ist unsichtbar.«
Paul trank seinen Kaffee in einem Zug. Er erklärte in bittergalligem Ton: »Schiffer, ich sage ihnen zum letzten Mal: Bei der geringsten Scheiße... «
»Du nervst. Ich hab's kapiert. Und überhaupt ändern wir heute Morgen die Methode.«
Er bewegte die Finger, als spiele er mit den Fäden einer Marionette.
»Wir arbeiten behutsam.«
Sie schalteten das Blaulicht ein und nahmen die Busspur.
Das Grau der Seine, die Granitfarbe von Himmel und Ufern wob ein glattes, farbloses Universum. Paul mochte dieses drückende Wetter voller Überdruss und Traurigkeit, es bot ein Hindernis, das er mit dem Willen des energischen Polizisten zu überwinden hatte.
Unterwegs hörte er die Nachrichten auf seinem Mobiltelefon ab. Der Richter Bomarzo verlangte neue Informationen. Seine Stimme war angespannt. Er gab Paul noch zwei Tage, bis er die Kriminalpolizei einschalten und andere Ermittler einsetzen würde. Naubrel und Matkowska setzten die Nachforschungen fort. Sie hatten den ganzen letzten Tag bei den Tiefbauarbeitern verbracht, die den Boden von Paris durchbohren und Abend für Abend in Druckkammern dekomprimiert werden. Sie hatten die Chefs von acht verschiedenen Unternehmen befragt, ohne Ergebnis. Sie hatten auch den wichtigsten Hersteller dieser Kästen in Arcueil aufgesucht. Nach den Worten des Chefs war die Vorstellung, dass ein Mann ohne Ingenieursausbildung eine Druckkammer bedienen konnte, völlig absurd. Bedeutete dies, dass der Mörder ein solches Wissen besaß? Oder waren sie auf der falschen Fährte? Die beiden Polizisten setzten ihre Nachforschungen in anderen Industriezweigen fort.
Als sie an der Place du Châtelet ankamen, sah Paul einen Streifenwagen, der in den Boulevard de Sébastopol einbog. An der Rue des Lombards holte er ihn ein und gab dem Chauffeur ein Zeichen anzuhalten.
»Nur eine Minute«, sagte er zu Schiffer.
Er kramte Kinder-Überraschungseier und Marsriegel, die er eine Stunde zuvor gekauft hatte, aus dem
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