Das Imperium der Woelfe
angekommen.«
»Donnerstagmorgen?«
»Um sechs Uhr, ja. Sie arbeitete nachts.«
Die beiden Polizisten sahen einander an. Die Frau war von der Arbeit gekommen, als der Täter sie überraschte, aber alles war am frühen Morgen geschehen. Sie hatten richtig gelegen, mit dem kleinen Unterschied, dass sie Tag und Nacht vertauscht hatten.
»Du sagst, sie sei nie zu Hause angekommen«, begann Schiffer erneut. »Wer hat dir das gesagt?«
»Ihr Verlobter.«
»Gingen sie nicht gemeinsam nach Hause?«
»Er arbeitete am Tag.«
»Wo kann man ihn finden?«
»Nirgendwo. Er ist nach Hause zurück.«
Die Antworten von Tanoi waren genauso gerade wie die Nähte seines Kittels.
»Hat er nicht versucht, die Leiche zu bekommen?«
»Er hatte keine Papiere. Er sprach kein Französisch. Er ist mit seinem Kummer geflohen. Ein Türkenschicksal, ein Exilantenschicksal.«
»Sülz mir nichts vor. Wo sind die anderen Kolleginnen?«
»Welche Kolleginnen?«
»Die mit ihr nach Hause gingen. Ich will sie befragen.«
»Unmöglich. Alle weg, wie vom Erdboden verschluckt.«
»Warum?«
»Sie haben Angst.«
»Vor dem Mörder?«
»Vor Ihnen. Vor der Polizei. Keiner will mit der Geschichte zu tun haben.«
Chiffre pflanzte sich vor dem Türken auf, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
»Ich glaube, du weißt wesentlich mehr, als du mir sagen willst, mein Dicker. Lass uns mal zusammen in den Keller gehen. Vielleicht kommt dir dort eine Eingebung.«
Der Mann rührte sich nicht. Die Nähmaschinen surrten. Die Musik dröhnte unter dem eisernen Dachstuhl der Halle. Er zögerte noch ein paar Sekunden und ging dann auf eine Eisentreppe zu, die unter einer der Emporen in die Tiefe führte.
Die Polizisten folgten ihm. Am Ende der Stufen passierten sie einen dunklen Gang, streiften eine Metalltür und gelangten in einen weiteren Flur mit einem Fußboden aus gestampfter Erde. Sie mussten sich bücken, um voranzukommen. Nackte Glühbirnen zwischen den knapp unterhalb der Decke entlangführenden Abflussrohren wiesen ihnen den Weg, bis sie plötzlich vor zwei aus Brettern zusammengenagelten Türreihen standen, die mit Kreideziffern beschriftet waren. Vom Inneren dieser Verliese drang ein Brummen auf den Gang.
An einer Ecke blieb Tanoi stehen und langte nach einer Eisenstange, die hinter einer alten Matratze verborgen war, deren Sprungfedern heraustraten. Mit vorsichtigen Schritten schlich er den Flur entlang, dann hämmerte er mit der Stange gegen die gusseisernen Abflussrohre, was einen lauten Widerhall hervorrief.
Plötzlich tauchten unsichtbare Feinde auf. Ratten, dicht gedrängt unter einem gusseisernen Bogen, direkt oberhalb ihres Kopfes. Paul erinnerte sich an die Worte des Gerichtsmediziners: »Bei der zweiten war es anders. Ich glaube, da hat er etwas... Lebendiges benutzt.«
Der Betriebsleiter fluchte auf Türkisch und schlug mit aller Kraft in ihre Richtung. Die Nagetiere verschwanden. Der gesamte Flur vibrierte in voller Länge, Türen zitterten in ihren Angeln. Schließlich blieb Tanoi vor Nummer 34 stehen.
Mit einer Bewegung der Schulter gelang es ihm nach einiger Mühe, die Tür zu öffnen. Das Gesumm ertönte nun in voller Lautstärke, Licht fiel auf das verkleinerte Modell eines Nähateliers. Dreißig Frauen saßen vor Nähmaschinen, die auf Hochtouren liefen, wie benommen von ihrem eigenen Tempo. Die Arbeiterinnen beugten sich über die Nähtische und schoben Stoffstücke unter die Nadeln, ohne den Besuchern die geringste Beachtung zu schenken.
Der Raum maß nicht mehr als zwanzig Quadratmeter, und es gab keine Belüftung. Die Luft war so schwer - Geruch nach Farbe, Stoffpartikeln, Lösungsmitteln -, dass man kaum atmen konnte. Manche Frauen trugen ihr Kopftuch als Mundschutz. Andere hatten Säuglinge auf ihrem Schoß in einem Tuch liegen. Auch Kinder arbeiteten, saßen in Haufen von Stoff herum, legten Teile zusammen und packten sie in Kartons. Paul erstickte fast, und er fühlte sich wie eine jener Filmfiguren, die mitten in der Nacht aufwachen und feststellen, dass ihr Albtraum Wirklichkeit geworden ist.
Schiffer sagte im Ton des ehrbaren Bürgers: »Das wahre Gesicht der Firma Sürelik! Zwölf bis fünfzehn Stunden Arbeit, mehrere Tausend Kleidungsstücke pro Tag und Arbeiterin. Drei-Achtel-Takt auf Türkisch, mit nur zwei Schichten - oder sogar nur einer.« Er schien die Grausamkeit des Spektakels zu genießen. »Aber Vorsicht: Das alles geschieht mit dem Segen des Staates. Überall drückt man ein Auge zu. Das
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