Das Imperium der Woelfe
stärker wurde - und sein Durst. Jede kleinste Zelle seines Körpers war gereizt...
Anna wiederholte eine Tonlage tiefer: »Mich.«
Sie zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Ackermann traute sich zu fragen: »Kann ich eine haben?«
Sie entflammte zuerst ihre Marlboro, dann, nach einigem Zögern, bot sie ihm eine an. Als sie ihr Feuerzeug anmachte, wurde es dunkel. Die Flamme durchdrang die Nacht und gab die Szene im Negativ wieder. Mathilde betätigte den Lichtschalter.
»Wie geht es weiter, Ackermann? Uns fehlt der wichtigste Hinweis. Wer ist Anna?«
Ihr Ton war immer noch drohend, jetzt aber frei von Zorn oder Hass. Er wusste nun, dass diese Frauen ihn nicht umbringen würden. Man wird nicht einfach so zum Mörder. Seine Beichte war freiwillig und verschaffte ihm Erleichterung. Er wartete, bis der Geschmack verbrannten Tabaks seine Kehle ausfüllte, dann antwortete er: »Ich weiß nicht alles. Ganz im Gegenteil. Nach dem, was man mir sagte, heißt du Sema Gokalp. Du bist Türkin und arbeitest hier illegal. Du kommst aus der Gegend von Gazi-antep in Südanatolien, du hast im 10. Arrondissement gearbeitet. Sie haben dich am sechzehnten November 2001 ins Institut Henri Becquerel gebracht, nachdem du kurz in Sainte-Anne gelegen hattest.«
Anna lehnte noch immer leidenschaftslos an der Säule. Die Wörter schienen ohne jede Wirkung in sie einzudringen, genauso unsichtbar und tödlich wie bei der Bombardierung von Teilchen in einem Labor.
»Haben sie mich entführt?«
»Eher gefunden. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Eine Auseinandersetzung zwischen Türken. Eine Werkstatt im Viertel Strasbourg-Saint-Denis wurde verwüstet. Irgendeine düstere Erpressungsgeschichte, ich weiß nicht genau. Als die Polizei kam, war niemand mehr in der Werkstatt. Außer dir. Du hattest dich in einen Wandschrank geflüchtet...«
Er nahm einen tiefen Zug, trotz des Nikotins hielt der Geruch der Angst an. »Charlier hörte von der Sache. Er begriff sogleich, dass er ein ideales Versuchsobjekt für das Projekt Morpho gefunden hatte.«
»Warum ideal?«
»Ohne Papiere, ohne Angehörige, ohne Bindungen. Und vor allem im Schockzustand.«
Ackermann warf Mathilde einen Blick zu, den Blick des Spezialisten. Dann wandte er sich wieder Anna zu. »Ich weiß nicht, was du in dieser Nacht gesehen hast, aber es muss etwas Entsetzliches gewesen sein. Du warst völlig traumatisiert. Noch drei Tage danach waren deine Gliedmaßen katatonisch erstarrt. Beim kleinsten Geräusch fuhrst du hoch. Das Interessanteste aber war, dass das Trauma dein Gedächtnis zerstört hatte. Du schienst unfähig, dich an deinen Namen, deine Identität und die wenigen Hinweise, die im Pass stehen, zu erinnern. Unaufhörlich murmeltest du unzusammenhängende Dinge. Diese Amnesie bereitete mir das Terrain. Ich würde dir schneller neue Erinnerungen einpflanzen können. Ein perfektes Versuchskaninchen.«
Anna schrie: »Schweinehund!«
Indem er die Augen schloss, gab er ihr Recht. Dann besann er sich und sagte im vollen Bewusstsein der eigenen Sichtweise voller Zynismus: »Im Übrigen sprachst du fließend Französisch. Dieses Detail hatte Charlier auf die Idee gebracht.«
»Welche Idee?«
»Zunächst wollten wir im Kopf einer fremden Person nur künstliche Erinnerungsfragmente platzieren. Wir wollten wissen, was dabei herauskommt, wenn man zum Beispiel die religiöse Überzeugung eines Muslim verändert. Oder ihm ein Motiv für Ressentiments einflößt. Bei dir aber zeichneten sich andere Möglichkeiten ab. Du sprachst unsere Sprache perfekt. Körperlich sahst du aus wie eine Europäerin. Charlier aber legte die Latte noch höher, denn er hatte eine vollkommene Konditionierung im Sinn. Er wollte deine Persönlichkeit und deine Kultur zu Gunsten einer westlichen Identität auslöschen.«
Er hielt inne. Die beiden Frauen verharrten in Schweigen. Eine unausgesprochene Einladung, fortzufahren. »Zuerst habe ich durch Spritzen einer Überdosis Valium deinen Gedächtnisverlust verstärkt. Dann habe ich mit der eigentlichen Konditionierungsarbeit begonnen, dem Aufbau deiner neuen Persönlichkeit. Mit I50.«
Mathilde fragte mit irritiertem Unterton: »Worin bestand diese Konditionierungsarbeit?«
Ein neuer Zug an der Zigarette, dann antwortete er, ohne Anna aus den Augen zu lassen: »Dich Informationen auszusetzen. In jeglicher Form: Reden, Videofilme, Töne. Vor jeder Sitzung habe ich dir die radioaktive Substanz injiziert. Die Ergebnisse waren unglaublich.
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