Das Imperium
Kaffee getrunken.
Über der Eingangstür hingen ein Kruzifix und trockene Palmwedel vom Palmsonntag des vergangenen Jahrs. Jeden Sonntag ging Rita zur Kirche, obwohl sie sich manchmal auch Unisono-Sendungen im Fernsehen ansah, die ihr aber zu vage und nichts sagend erschienen. Der Erzvater mit seinem Bart und dem hübschen Umhang sollte der unparteiische Sprecher aller Glaubensrichtungen sein; so wollten es die vereinten Repräsentanten der wichtigsten irdischen Religionen. Aber Rita hielt die katholische Kirche für weitaus religiöser.
Wenn Raymond seine Mutter ansah, fühlte er sich immer von Kummer erfasst. Graue Strähnen zeigten sich inzwischen in Rita Aguerras dunklem Haar. Früher hatte sie Stunden damit verbracht, es zu kämmen, auf dass die rabenschwarze Pracht eindrucksvoll glänzte. Aber jetzt band sie das Haar einfach nur zu einem Pferdeschwanz oder Knoten zusammen. Einst war sie sehr schön gewesen – einen Schatten dieser Vergangenheit sah Raymond noch immer in ihrem Gesicht –, doch Rita hatte nicht mehr die Zeit, sich zu pflegen. Und auf eine neue Liebe hoffte sie längst nicht mehr. Harte Arbeit und zu viel Verantwortung hatten sie in eine untersetzte, muskulöse Matrone verwandelt.
Am Tag arbeitete Rita als Angestellte für eine extraterrestrische Handelsgesellschaft und nachts als Kellnerin. Kaffee und Zigaretten halfen ihr, den Tag zu überstehen, machten sie aber auch so nervös, dass sie während der wenigen Stunden, die ihr zum Ausruhen blieben, oft nicht schlafen konnte.
Wenn sie heimkehrte, umarmte sie ihre vier Jungen und umhüllte sie mit dem Duft ihres Rosenparfüms. Es gelang ihr gerade so, die Familie durchzubringen, und jetzt, da Raymond alt genug war, konnte sie einen Teil der Bürde ihm überlassen.
Eines Abends, vor gut einem Monat, hatten sie allein am wackligen Esstisch gesessen. Rory, Carlos und Michael waren bereits zu Bett gebracht worden und alberten noch ein wenig herum, bevor sie schließlich einschliefen. Während ihr Blick auf Raymond ruhte, zündete sich Rita eine weitere Zigarette an; das machte sie nur selten, wenn die Jungen zugegen waren. Raymond begriff, dass ihn seine Mutter wie einen Erwachsenen behandelte, als den Mann in ihrem Haus, seit Esteban Aguerra verschwunden war.
Bei jener Gelegenheit hatte sie ihm davon erzählt und Einzelheiten genannt, nach denen Raymond nie zu fragen gewagt hatte. »Es kann recht schwer sein, mit mir zurechtzukommen, vor allem für einen unbekümmerten Mann wie deinen Vater, aber ich habe immer versucht, meiner Verantwortung gerecht zu werden und mir alle Mühe zu geben. Ihr Jungs seid mein Ein und Alles und euer Vater… Er hatte auch seine guten Seiten, obgleich er sie manchmal versteckte. An jenem Abend, als er uns verließ, hatten wir einen besonders schlimmen Streit. Ich weiß gar nicht mehr, worum es ging… Ich glaube, ich hatte ihm ein Paar Schuhe gekauft oder so.«
Eine Hand hielt die Zigarette, doch die andere ballte sich zur Faust. »Ich habe ihm zwei blaue Augen verpasst, bevor er fortlief, an Bord des Kolonistenschiffes ging und nach Ramah flog.«
»Hast du jemals daran gedacht, ob er es bereut, uns verlassen zu haben, Mama?«
Rita zuckte mit den Schultern. »Vermutlich hat er es bereits bereut, seine Söhne verlassen zu haben, denn er war ein stolzer Mann. Aber an mich hat er vermutlich keinen Gedanken mehr verschwendet.«
Seit jenem Abend dachte Raymond immer wieder darüber nach.
Seine Gedanken kehrten ins Hier und Heute zurück, als er auftischte. Die Mahlzeit bestand aus Makkaroni, Suppenresten und einigen klein geschnittenen Salamischeiben, die den Eindruck erweckt hatten, dass sie sich selbst im Konservierungsfach nicht mehr lange halten würden. Raymond schnupperte daran, runzelte die Stirn und fügte Käsepulver hinzu. »Das Essen ist fertig. Wenn es kalt wird, kommt es morgen als Rest auf den Tisch.«
»Ich dachte, es gäbe heute Abend den Rest von gestern«, sagte Carlos.
»Ich kann dich auch mit leerem Magen zu Bett schicken.«
Die Jungen kamen und holten sich ihre Teller. Rita nahm eine kleine Portion entgegen und kommentierte den kulinarischen Wagemut ihres ältesten Sohns mit einem leisen Lachen. Dann setzte sie sich, aß und behauptete, es wäre eine der leckersten Mahlzeiten, die sie jemals gegessen hatte.
Später, als Rita wieder in ihrem Sessel saß und vielleicht schlief, brachte Raymond seine jüngeren Brüder zu Bett. Er achtete darauf, dass sie sich wuschen und die Zähne putzten.
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