Das Imperium
Kondorfliege stimmt was nicht, Beneto. Bitte sieh sie dir an. Vielleicht weißt du, was ihr fehlt.« Sie hielt die hundegroße Kondorfliege in ihren Armen. Ihre Flügel hingen schlaff herunter.
Sarein hätte Celli kindliche Vernarrtheit in ein geistloses Insekt vorgeworfen, aber Beneto begegnete dem Mädchen mit Anteilnahme. »Komm mit. Deine Kondorfliege mag bestimmt die offenen Wiesen, wo sie normalerweise lebt.« Er strich über den langen, schmalen und glänzenden Kopf der Kondorfliege. Die aus acht Segmenten bestehenden Beine zuckten, als träumte das Geschöpf davon, an einer Riesenblume emporzuklettern.
Beneto führte seine Schwestern durch hohes Gras und an den dicken Stämmen von Weltbäumen vorbei zu einer Wiese mit Lilien so groß wie Saftfässer. Kondorfliegen flogen dort. Cellis Liebling schien ein wenig munterer zu werden – seine Flügel zitterten.
»Sieh auf den Boden, Celli.« Beneto deutete auf die vielen Flügel, die wie buntes Glas überall auf der Wiese lagen. Natürlicher Zerfall ließ die Körper toter Kondorfliegen innerhalb kurzer Zeit verschwinden, aber die durchsichtigen Flügel blieben zurück und kündeten von ihrer kurzen, farbenprächtigen Existenz.
»Wir alle haben unser Leben, kleine Schwester. Es kommt nicht darauf an, wie lang es ist, sondern was wir daraus machen. Ich arbeite für den Weltwald. Reynald wird eines Tages der Vater von Theroc sein. Sarein wird unsere nächste Botschafterin auf der Erde. Du und Estarra, ihr müsst noch eine Aufgabe für euch wählen.« Beneto streckte die Hand aus und streichelte die Kondorfliege vorsichtig. »Auch dein Liebling hat ein Leben. Was möchte er wohl damit anfangen?«
»Er leistet mir Gesellschaft«, sagte Celli. Die Kondorfliege schlug mit den Flügeln und zog an der dünnen Leine – sie wollte zu den anderen bunten Insekten, die über der Wiese hin und her schwirrten.
»Und mehr möchte er nicht?«, fragte Beneto.
»Er gehört mir. Ich habe ihn lieb.« Als Beneto zu den anderen Kondorfliegen blickte, verstand Celli plötzlich, worauf ihr Bruder hinauswollte. »Oh. Vielleicht ist er gar nicht krank, sondern fühlt sich nur einsam.«
»Lass deine Kondorfliege einige Tage herumfliegen und den Nektar der Blumen trinken, Celli«, sagte Estarra. »Sie kennt den Weg zu deinem Zimmer, wenn sie zurückkehren möchte.«
Widerstrebend löste das Mädchen die Leine. Die Kondorfliege stieg auf und schlug anmutig mit ihren Flügeln. Sie schien sofort neue Kraft zu schöpfen, ließ sich im Aufwind treiben. Dann flog sie zu den großen Blumen, berührte andere Insekten, kommunizierte mithilfe von Pheromonen und Infraschallsignalen.
Lange Zeit beobachteten Beneto und seine Schwestern, wie die Kondorfliege in der Luft tanzte. Schließlich wandten sie sich ab und wanderten gemeinsam zur Pilzriff-Stadt. Celli weinte leise und sah immer wieder über die Schulter zurück.
In jener Nacht, als Celli in ihrem Zimmer schlief, das Fenster zum Wald hin geöffnet, kehrte die Kondorfliege zurück. Sie landete auf dem schlafenden Mädchen, breitete ihre Flügel wie eine Decke aus. Celli bewegte sich und murmelte etwas, erwachte aber nicht, als die Flügel ein letztes Mal zuckten, bevor das bunte Insekt starb.
Estarra band ihr Haar zusammen, damit es ihr nicht im Weg war, gesellte sich dann den Arbeitsgruppen im Kokon der Haufenwürmer hinzu. Zuerst musste Ordnung geschaffen und alles sauber gemacht werden. Estarra schrubbte, glättete Wände und markierte Stellen für Möbel oder Türen. Andere theronische Arbeiter stützten Bögen ab und blockierten Sackgassen, die später als Lagerräume benutzt werden konnten. Sie entfernten dünne Wände, um Wohneinheiten zu erweitern. Es hatte eine Weile gedauert, eine Karte von den vielen Tunneln und Kammern anzulegen, aber jetzt nahm der neue Wohnkomplex allmählich Gestalt an.
Bei der Konstruktion des Kokons nahmen die Haufenwürmer keine Rücksicht auf menschliche Erfordernisse, was Anpassungen erforderte. Manche Wurmtunnel waren groß genug, dass man aufrecht in ihnen gehen konnte, aber durch andere musste man kriechen. Die neuen Bewohner würden die kleinen Passagen erweitern und rasch lernen, sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden. Bestimmt dauerte es nicht mehr lange, bis an diesem Ort ein reges Gemeinschaftsleben herrschte. Viele Familien hatten bei Vater Idriss und Mutter Alexa bereits ein neues Quartier im Kokon beantragt.
Draußen flogen zwei waghalsige junge Männer mit Segelfliegern, bestehend aus
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