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Das Impressum

Das Impressum

Titel: Das Impressum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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außerordentlich die Rede ist –, und ich glaube, ich riskiere es, das zu glauben: Als ich sie mit dem Kind sah, hab ich den Schuß Mut bekommen, der manchmal auch dazugehört, um das Natürliche zu tun.«
    »Es kann sein, daß auch unsere Freunde die Bilder ruhiger hinnähmen, wenn sie das wüßten: da hätten sie ihren außerordentlichen Grund. – Aber sonst siehst du immer noch nicht, daß ich ein Recht habe, denen an den Hals zu gehen, die nach einem Blick auf ein ungewöhnliches Bild ein fertiges Bild von der Person haben, die es aufgenommen hat? Mir geht es weniger um dich und darum, daß Helga Gengk dich für ein eiskaltes Wesen hält, als vielmehr um die Reaktionen solcher Leute auf das, was anders ist, als sie es erwartet haben. Mir geht es nicht um die Urteile über dich, mir geht es um die Vorurteile. Es ist gespenstisch, daß fast nichts so zuverlässig funktioniert wie die Mechanismen der Vorurteile. Aber ich habe es erlebt:Es hat genügt, einen anderen Namen zu haben, da griffen sie schon nach dir. Es hat genügt, anderer Meinung zu sein, da griffen sie nach deiner Gurgel. Mir ist nichts geschehen. Aber schon mein Vater ist ihnen nicht mehr entkommen. Zweimal ist er gegen ihre Urteile angegangen, die nur Zuspitzungen ihrer Vorurteile waren, und dann hatte er sie so begriffen, daß er anders gestorben ist, als ihre Erwartung wollte. Damals hat das nichts genützt, aber es hätte überhaupt nichts genützt, wenn ich es vergessen hätte.«
    »Du kommst doch dieser Gegenwart nicht bei, wenn du sie als eine Fortsetzung behandelst! Das stimmt auch gar nicht zu dir, David; du kannst doch nicht den Zorn von damals auf die Dummheit von heute wenden.«
    »Das gerade bezweifle ich manchmal«, sagte David, »keine Sorge, ich verwechsle Helga Gengk nicht mit dem Lehrer Kasten, die Weiber in der Uckermark nicht mit den Schweinen, die den Hirsch Ascher erschlagen haben, aber das macht mich rasend: daß in der guten Genossin Gengk noch etwas steckt, das sofort Stimme kriegt, wenn ihre Gewohnheiten irritiert werden, und in den fleißigen Frauen dort bei Ueckermünde funktioniert immer noch etwas, womit man jahrhundertelang alles Fremde ins Unglück funktioniert hat: das Ungewohnte, das einsame Neue, das abweichende Talent, das verstörend Andere. Das zieht sich doch hin, Mädchen, von Olim her: Die Erde ist ein Jammertal – wer’s anders sagt, kommt vom Teufel; der König ist von Gott gesandt – wer’s anders sagt, fahr zur Hölle; die Weiber sind aus Adams Rippe, und Rippenfleisch hat das Maul zu halten; die Erde ist eine Scheibe; Unternehmer sind Arbeitgeber; vom Impfen kriegt man die Pocken; Schauspielerinnen müßten mal arbeiten gehen; der Mensch kann nicht fliegen; Braunkohle gibt keinen Hüttenkoks; wer Sozis wählt, richtet Deutschland zugrunde; Lesen verdirbt den Charakter; Politik verdirbt den Charakter; Juden haben keinen Charakter; Deutschland über alles; Rotwein macht Blut, und im Kindbett fotografiert man nicht – so!«
    »So«, sagte Franziska. »Du berennst alles mit der gleichen wütenden Wucht, wenn du dich erst einmal zum Angriff aufgeblasen hast: Bären oder Flöhe, und manchmal frage ich mich, wie das mit uns beiden überhaupt hat etwas werden können. Ich meine, soviel Vorurteile, um bei dem Wort zu bleiben, soviel Vorurteile wie Helga Gengk hatte ich damals allemal.«
    David hütete sich zuzugeben, daß dieser Gedanke ihm nicht neu war. Er sah seiner Frau und seinem Sohn zu, die sich miteinander zu schaffen machten und kein Auge für ihn zu haben schienen; das war gut so; er hatte rote Ohren.
    Er wußte es: Hätte er beim frühen Umgang mit dem Mädchen aus der Börde nicht diesen oder jenen seiner Grundsätze ausgesetzt, hätte er nicht dem einen oder anderen Prinzip für die Dauer eines Besuchs bei Fran Urlaub gegeben, dann säße er jetzt nicht hier und nähme teil am schönen alten Spiel: Vater, Mutter und Kind, oder zumindest wäre die Besetzung von zweien der drei Titelrollen eine andere; er mochte nicht daran denken.
    Nichts hatte gepaßt: Weißleben nicht, ein Ratzeburg in der mitteldeutschen Börde, nur kleiner noch und noch mieser, und er hatte doch losgewollt von allem Ratzeburg.
    Das künftige Schwiegerhaus hatte nicht gepaßt, Kleinbürgerhäuslichkeit mit blassen Freuden und blassem Zorn, Innungsgesinnung, halbherzig geübte Riten nach August Hermann Francke, gute Stube und Feiertagshemden und Lebenshilfe von Matthias Claudius und: Essen Sie nur, es ist noch alles

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