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an die Hauptfrage.
Der Kurs war klar, also konnte er noch ein bißchen arbeiten: In zwei Monaten würde sich die Kristallnacht zum zwanzigsten Male jähren, und er hatte die Materialvorbereitung übernommen. Er hatte eine vage Idee: Statt der bekannten Dokumente und statt der Berichte bekannter Leute, oder wenigstens zu ihnen hinzu, wollte er Zeugnisse von solchen Menschen bringen, die weder in der einen Hinsicht noch in der entgegengesetzten Beteiligte gewesen waren, er wollte im Hause jene fragen, die, ähnlich wie er selbst, dabeigestanden hatten, wollte sehen und zeigen, was an Erinnerung noch da war an einen so grausigen Tag und wie sich das ausnahm heute, zwanzig Jahre danach.
»Ich grüße dich, Karnickelmädchen«, sagte er, »ich sehe, dein Boß ist nicht da; das ist gut, da kann ich dich begierig betrachten, und, das unter uns, der ist mir auch viel zu umständlich. Hilfst du mir mal?«
»Ich denke, du bist vollauf beschäftigt, deinen Sohn begierig zu betrachten?« sagte Carola Krell. »Jedenfalls ist das schon Kantinengespräch. – Was brauchst du?«
»Ich suche folgendes: Eine Liste derjenigen unserer Mitarbeiter, ganz gleich, ob Redaktion, Druckerei oder Verwaltung, die im November achtunddreißig einigermaßen im Vollbesitz ihres Verstandes gewesen sein könnten, und schön wäre noch, es wären nicht nur Berliner. Vielleicht haben wir auch Bayern und Ex-Pommern oder Rheinländer oder am Ende gar Sachsen.«
»Quatschkopp! – November achtunddreißig, da war ich im Arbeitsdienst; aber: im Vollbesitz meines Verstandes? Was soll denn da gewesen sein?«
»Die Kristallnacht.«
»Da fällt mir etwas ein«, sagte Carola. »Ich hätte es dir sowieso gezeigt. Mir ist nicht wohl dabei, aber allein damit ist mir noch weniger wohl. Behältst du es für dich?«
»Das kann ich dir nicht versprechen«, sagte David. »Womöglich hast du die Akte von Martin Bormann gefunden, und er ist bei uns Materialverwalter.«
Carola holte tatsächlich einen Personalakt und legte ihn nach einem Blick zur Tür vor David hin.
»Gabelbach?« sagte David. »Am Ende wird doch nicht Kollege Gabelbach der Martin Bormann sein?«
»Mach du nur Witze«, sagte Carola und zog einen Karteikasten aus seiner Halterung, »aber es handelt sich nicht um eine Entdeckung. Ich habe nur etwas gelesen, im Lebenslauf eures Gabelbach, die Stelle ist angestrichen, aber nicht von mir; das hat lange vor mir jemand angestrichen.« Sie schlug ihm die Seite auf und fragte: »Hast du jemals was von einem Alfred Kerr gelesen?«
David hatte die Augen schon auf dem grauen karierten Papierund auf der steilen Schrift darauf, er erfaßte Carolas Frage nur noch halb und sagte automatisch: »Einige Theaterkritiken, die ganz lustig waren. So pathetisch. Als ob’s beim Theater um das Leben ginge!«
Dann las er Gabelbachs Erklärung, und er hörte Gabelbachs Tonfall dabei, die Sprechweise eines Mannes, der sich zu etwas herbeiließ, dem man etwas abgezwungen hatte und der rasch noch sagen wollte, er glaube nicht an gut Gelingen. »In dem gegebenen Zusammenhange halte ich mich für verpflichtet, auf einen Punkt etwas ausführlicher einzugehen, als ich es bei früheren ähnlichen Gelegenheiten getan habe. (Um sogleich die nunmehr fällige Frage zu beantworten: Anfangs, in den ersten drei Jahren meiner Tätigkeit bei der NBR, hatte ich nicht den Mut, die Dinge darzutun, von denen ich gleich sprechen werde; auch fehlte es mir an Vertrauen, und – ich will offen sein – überdies wußte ich nicht, ob ich nicht doch, wie mir oft geraten worden war, die sowjetisch besetzte Zone verlassen würde. Ich lebte in Übergängen und wollte die Lage nicht komplizierter machen.) In meinen ersten autobiographischen Darstellungen, die sich bei meinen Akten finden müssen, habe ich sinngemäß über mein Verhalten bei der Machtübernahme durch die NSDAP erklärt, ich sei, Germanistik-Student, der ich war, wie die große Mehrheit meiner Kommilitonen in völkischer Gesinnung befangen gewesen und hätte mich, halb überzeugt, halb opportunistisch eingebunden, von der Nazibewegung treiben lassen. Ferner: Ich sei als Aktiver des RKDB (Ring Katholischer Deutscher Burschenschaften) 1934 durch Reichserlaß automatisch Quasi-Mitglied des Nationalsozialistischen Studentenbundes geworden, hätte aber außerdem weder der Nazipartei noch einer ihrer anderen Gliederungen angehört, und mit meinem Ausscheiden aus dem Studium sei auch die Mitgliedschaft im Studentenbund erloschen. An dieser
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