Das Impressum
oder doch zu vernachlässigen: das Leben, die ganz konkrete Arbeit, die Neigungen und Abneigungen, die Ansichten und die Schwierigkeiten derer, ohne die alle geplanten Parameter und also die ganze Strecke ein Scheißdreck wären.«
»Aber das tun wir doch nicht«, warf David ein, »beim Fernsehturmfundament haben wir alle Brigaden vorgestellt, und nicht nur da. Was willst du, hinter jedem einzelnen Bauarbeiter herlaufen?«
Es schien, als wollte Jochen Güldenstern das Gespräch aufgeben, es als hoffnungslos abbrechen. Er sah finster zumFenster hinaus und betastete seinen Bauch und pustete vor sich hin wie nach einem scharfen Lauf.
David war es unbehaglich, weil er wußte, was im Zentrum der verwackelten Redespirale Güldensterns steckte, und weil er sich eigener Gedankenkreise um denselben Kern entsann. Da ist ohnehin nichts zu reden, dachte er, da mache ich mir lieber einen Text für das Urnengrab vom Genossen Schäfers, aber da meldete sich Erich. »Du bist gut, Jochen: Ich höre hier zu und gebe mir Mühe, euch zu folgen, und nun ist nichts mehr. Ich möchte die Leute aber verstehn, die ich fahre, sonst könnte ich ja auch Pflanzenfette fahren, aber dich verstehe ich noch nicht.«
»Ach, das ist alles ungenau, was ich gesagt habe. Im Grunde genommen geht es auch nicht um die Zeitung oder um Journalismus, sondern darum, ob man sich das Gefühl bewahrt für das, wo man herkommt und für wen man da ist. Ich weiß eben nicht, wie das wäre, wenn der Genosse Frauwein mir gegenüber mit seiner Arbeiterklasse aufgetrumpft hätte, immerhin ist er noch ein Mann aus der Produktion, und ich bin bestenfalls ein Produktionsbeschreiber.«
»Dein Freund Bienhofer ist auch nur ein Beschreiber«, sagte David ungeduldig, »hat der auch solche Hemmungen? Ich hatte nicht den Eindruck.«
Aber Güldenstern wehrte sich. »Der ist eben kein Beschreiber. Der baut. Der macht Wirkliches. Wenn der was geschrieben hat, kannst du es später anfassen, nicht nur das Buch, nein, die Leute, die drin vorkommen. Er hat sie sich ausgedacht, aber jetzt laufen sie hier rum.«
»Ich äußere einen Verdacht«, sagte David. »Du willst Schriftsteller werden!«
Güldenstern nickte. »Alle wollen Schriftsteller werden, Bienhofer sagt, er hat kaum eine Lesung mit anschließender Diskussion gehabt, wo nicht einer aufgestanden wäre und hätte gesagt, wenn er nur Zeit dazu hätte, er wüßte was zu erzählen, er hätte Sachen auf Lager, die saftigsten – wenn er nur die Zeit dazu hätte. Bienhofer sagt, nach seinen Erfahrungenunterscheidet sich ein Schriftsteller von anderen Menschen nur dadurch, daß er sich die Zeit genommen hat, es zu werden. – Nein, ich will keiner werden, und ich will auch nicht wieder Holzarbeiter sein. Ich überlege nur, ob ich nicht für die Zeit des Aufbaus zum Kraftwerk Nord übersiedle und dort jeden Schritt mitmache, deshalb hab ich dich sprechen wollen, und deshalb komme ich nun gleich in den Genuß deiner Trauerrede für den Genossen Schäfers, und ich weiß schon selber nicht mehr.«
»Wunderbar«, sagte David, »du gehst für drei Jahre an den Greifswalder Bodden und rettest dein proletarisches Seelenheil, machst eine Pilgerreise ins vorpommersche Mekka, und deine gelegentlichen Berichte zeichnen wir: Von unserem Korrespondenten Bruder Jochen. Gabelbach delegieren wir bis zum zwanzigsten Jahrestag, lumpige zwanzig Monate, an den Fernsehturm; Hans Bammler heftet sich auf die Fersen der Nachwuchsschwimmerin Ramona Schikowski und läßt sie bis Olympia zweiundsiebzig nicht aus den Augen – damit er den Kontakt mit der Jugend nicht verliert, geht er in die Schule mit ihr und wird Thälmann-Pionier ehrenhalber; Gerd Korn installieren wir in, sagen wir, Damaskus, wo er die weiteren Schritte der DDR-Weltgeltung mitstiefelt; die Kulturmenschen, am besten gleich alle drei, hetzen wir auf deinen Freund Bienhofer, damit sie der Geburt eines künstlerischen Gedankens beiwohnen – alle drei, damit sie sich ablösen können: diese Künstler produzieren ihre Ideen zu den unmöglichsten Zeiten …«
Erich bewies Gefallen an der Vorstellung. »Dann müßt ihr aber eure sagenhafte Johanna Müntzer aus der Rente holen, damit sie den Laden wieder schmeißt; den Geschichten nach hat sie das früher ja auch gemacht. – Hier ist aber erst mal der Friedhof; ich warte, für tote Persönlichkeiten kann ich mich nicht erwärmen.«
Sie stiegen aus, und David vergaß nicht, den Fahrer aufzufordern, in der Trauerkneipe gegenüber einen
Weitere Kostenlose Bücher