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Contergan-Prozeß darfst du denken: Man müßte dem Weg des Geldes nach: aus dem Portemonnaie der jungen Frau, die nicht schlafen kann – warum eigentlich nicht? –, bis in den persönlichen Etat des Fabrikanten, der wie schlafen kann? Und wenn schlecht, was nimmt er da? Und wenn gut, wie verträgt sich das? Wie ist ihm, wenn er die Fotos von den Kindern sieht? Wie ist er mit seinen Kindern? Was macht das Geld aus ihm, solches Geld? Hat er das Beste gewollt? Fehlt ihm, auch ihm, das Unrechtsbewußtsein? Ist er der Pharmazeut Eichmann oder Hinz und Kunz als Pharmazeut? Hat er eine Philosophie, eine Theorie, einen Glauben, braucht er so was? Und, übrigens, was meint er denn wohl: Was ist ihm Glück?
Das steht dir frei, Chefredakteur Groth, dies: Man müßte mal … Man müßte vier Wochen in Fritz Cremers Atelier hocken. Man müßte in ein Dorf ziehn, das umziehen wird vor der Kohle her. Man müßte auf lange bei Anna Krause bleiben, zweiundsiebzig, Rentnerin, Witwe seit dem Volkssturm; müßte mit ihr auf die Post der Rente wegen und wegen des Päckchens aus Heidelberg, mit zum Spritzendoktor und zum Klempner von der Wohnungsverwaltung und auf Ausflug nach Lanke mit der Volkssolidarität und auf Konfirmation von Edeltrauts Jüngstem und zurück in ein Zimmer, in dem sich nichts mehr ändern wird.
Nach Dubna müßte man und nach Jena, nach Biafra und nach Plate bei Schwerin; Bormann müßte man aufspüren, einen Erfinder entdecken, einer Kiste Aal auf der Spur bleiben, Klaus Fuchs die Memoiren abluchsen; man müßte herausfinden, warum Jäcki Meißner, »Feile« genannt, klaut, müßte sich im Strafvollzug umtun und in den Bücherschränken der staatlichenFilmeinkäufer, müßte seine Runden drehen in den klassischen Reporterbahnen: ums Kriminalgericht, über die Schlachtfelder, um die Erde als Tramp; den Schicksalen müßte man nach, die Sonntag für Sonntag aus der Lottotrommel springen; endlich die ganze Geschichte der »Roten Kapelle« müßte man schreiben und die der grünen Revolution auf den Äckern zwischen Saßnitz und Greiz und überhaupt alles noch einmal besser, wahrhaftiger, aufregender, besser, besser, besser, und am besten wäre es, man könnte dies alles selber versuchen.
Doch adieu, Konjunktiv – der Indikativ lautet: Leiten, leiten, leiten. Einmal wöchentlich ist David Groth dem Selbermachen am nächsten. Da ist Konferenz: Auswertung der vorletzten Nummer anhand der Briefe; Auswertung der letzten Nummer anhand der eigenen Meinung; Stand der nächsten Ausgabe unmittelbar vor Andruck: »In der Glosse über Mitbestimmung steht zweimal ›PS-Vorstand‹ statt ›SP-Vorstand‹, ausgerechnet PS!« Zwischenrufe: »Ist eben ’ne Glosse!« und: »Wenn wir bei ›SPD‹ geblieben wären, passierte das nicht.«
Und schon rückt es David ein wenig fort vom Zeitungmachen, denn er sieht: Die politische Direktive ist noch nicht klar durchgekommen, aber er ist hier Chef, damit die Direktiven durchkommen: also nochmals Erläuterung.
Anfrage von Christa mit dem Stenoblock: »Wieso sind wir schon bei Drittens? Sie geben die Tagesordnung bekannt, und schon sind wir bei Drittens? Entfallen denn heute Eins und Zwei?«
»Ist in Ordnung, Christa, danke! Nein, wir machen jetzt Eins und Zwei, dann die Leserbriefe zur Vorletzten und nachher, Christa, wie immer das Künftige unter viertens und fünftens. Die Leserbriefe, Lilo!«
Lilo berichtet, besonderes Lob sei nicht eingegangen und besondere Schimpfe auch nicht, bis auf eine. Die Kleinigkeiten hat sie schon weitergegeben, zum Beispiel vier Briefe zu »Aus dem Leben eines Schöffen« und dem Satz des Kollegen Reh: »Und wieder einmal stand Peter S. auf der Anklagebank.«
Konferenzfreude und Kollege Reh ist wütend. Dann wieder Lilo: Große Schimpfe kam von einundzwanzig Lesern. Tenor: Unzulässige Disproportionen in der Berichterstattung über Weltraumforschung. Kernpunkt: Das sowjetische Programm ist hervorragend, aber tut doch nicht so, als schmissen die Amerikaner mit Murmeln! Sechsmal kommt wörtlich oder fast wörtlich die Frage: »Haben wir das nötig?« Ein Brief, sagt Lilo, ist von einem Lehrer aus Eisenhüttenstadt, der ist glänzend geschrieben, sehr prägnant; man sollte sehen, ob man ihn nicht zur ständigen Mitarbeit gewinnen kann.
»Ein Jammer«, seufzt Helga Gengk, »die Meckerköppe können meistens am besten schreiben.«
Protest gegen den Ausdruck »Meckerköppe«. David darf das schlichten. »Stimmt, Helga, kritische Stimmung fördert den
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