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Das Impressum

Das Impressum

Titel: Das Impressum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Morgen zur Lagerküche, ließ sich dreimal verjagen, kam aber dann doch nahe genug heran, um nach einem Stück Papier zu fragen, vielleicht von einer Tüte, und er bekam den Boden von einem Suppenkarton.
    Gegen die Gebühr von einem Viertel der Brotration, zahlbar am Abend, lieh ihm ein Kamerad den Rest eines Bleistifts. Damit schrieb er auf die Pappe: »An Familie Rikow in Meierstorf bei Marnitz in Mecklenburg, Deutschland«, und auf die andere Seite schrieb er, auch dies in sauberen Druckbuchstaben: »Liebe Eltern! Ich lebe. Euer Gerhard.«
    Dann wurde er zur Arbeit auf die Straße geführt, und dort war er sehr sorgfältig. An die Panzermänner kam er nicht heran, und auf die Leute vom Troß war nirgendwo viel Verlaß, und auch diese Offiziere waren ihm nicht geheuer, und die jungen Burschen im Glied würden ohne Verständnis sein oder auch furchtsam, selbst wenn sie jetzt so schmetternd von der leuchtend prangenden Apfelblüte sangen.
    Er wählte sich einen Starschina, einen Feldwebelkerl mit überbreiter Brust und einem Schnauzbart, der zum Fürchtenwar. Der marschierte einem Zug voran und riß beim Singen den Mund zu Kommißbrotweite auf, und sein Auge war wach, als Gerhard Rikow ihm die Pappe reichte, aber er behielt sie in der Hand, und er blieb im Tritt, und er blieb bei seinem Lied, und Gerhard Rikow sprang zurück an seine Arbeit.
    Gefangene sind wachsamer als ihre Posten; sie fragten Rikow, was er dem Kerl gegeben habe, und er sagte es ihnen. Da war endlich etwas erheiternd: Man hatte einen original Verrückten gefunden. Der hat einem Iwan Post mitgegeben. Der Iwan als Postbote. Iwan der Weihnachtsmann. Kamerad Iwan, geh mal bei mir zu Haus vorbei, ich hab auch ’ne Schwester. Wetten, dein Billett liegt längst im Dreck. Wetten, dein Feldwebel verzehrt es mit Machorka. Wetten, er kratzt sich den Arsch damit aus.
    Das ging alles noch, aber am Abend in der Baracke war es böse geworden: Ich stelle mir vor, jetzt liest gerade ein Kommissar dein Brieflein – läßt du mir deine Fußlappen da, wenn sie dich holen? Vielleicht hängen sie dich neben deinen Feldwebel, was meinst du? Nachrichtendienstliche Tätigkeit, ist doch klar.
    Und plötzlich war Gerhard Rikow ein Vaterlandsverräter: Kameraden, hier hat einer einem Iwan Post mitgegeben, Bestimmungsort Mecklenburg. Das setzt die Annahme des sogenannten Kameraden voraus, der Iwan käme bis Mecklenburg. Nein, das schließt die Hoffnung dieses Subjekts ein, die Roten möchten unsere Heimat erobern.
    Wohin gehört ein solches Schwein, Kameraden? Vors Kriegsgericht! Wie lange brauchte ein Kriegsgericht für sein Urteil, Kameraden? Keine fünf Minuten! Was würde das Kriegsgericht beschließen, Kameraden? Umlegen, umlegen, umlegen!
    Betrachte dich als umgelegt, du rote Sau. Von jetzt an verfaulst du, und mir scheint, du stinkst schon mächtig.
    März, April, Mai – ein kalter Frühling für Gerhard Rikow. Kein Wort zu ihm, aber viele über ihn und keine guten. Manchmal fiel ein Schmutzeimer um, über ihm. Manchmalschlug ein Rohr zurück, gegen ihn. Manchmal fehlte eine Jacke, ihm. Manchmal reichte das Brot nicht aus, gerade bei ihm. Manchmal war die Suppe dünn, immer bei ihm. Manchmal war es kaum noch zu ertragen, aber dann schlug Gerhard Rikow die Karte auf in seinem Kopf: Zwölfhundert Kilometer von hier bis Meierstorf, und unterwegs dorthin ein Starschina mit Schnauzbart und einem Stück Suppenkarton in der Tasche. Manchmal würde er fünfzig Kilometer am Tag marschieren, ras, dwa, tri: Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten, und manchmal würde er keinen einzigen Schritt vorwärts tun, festgenagelt liegen unterm Maschinenfeuer und fluchend im Dreck. Aber weiter bewegte er sich, denn auch die Kolonne vorm Lagertor bewegte sich weiter, und das Lied verstummte nie, und weiter wurde die Post getragen, weiter nach West und auf Meierstorf zu und weiter heran an eine enge und dunkle Küche.
    Da Gerhard Rikow ein Windbeutel war, hatte er seinem Feldwebel einen Tagesschnitt von zwanzig Kilometern angemessen, und wenn er in den Schlaf fiel, wund gestoßen außen und innen, allein und bedrängt, verurteilt und verachtet, dann schlug er dem Weg seiner Post zwanzig weitere Kilometer zu und strich seinen Eltern einen Tag vom Warten ab, einen Tag Furcht und Atemnot, und einmal merkte er und war sehr verwirrt, daß das Lied da draußen sein Lied nun geworden war.
    So kam der Tag im Mai, an dem ein wildes Schießen war, von den Türmen gleich am Zaun und noch weit überm

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