Das Inferno Roman
Liga wie ihre Mutter.
Als würde überhaupt irgendjemand anderes in ihrer Liga spielen.
Erst letzten Mittwoch hatte Louise Thayer Mutter zu einer Bridgepartie abgeholt, und Stanley hatte wieder einen Abstecher zur Mauer gemacht. Als er über den Rand spähte, hatte er Sheila bäuchlings auf dem Liegestuhl vorgefunden. Sie trug Baseballkappe und Sonnenbrille und las ein Buch. Die Kordel ihres Bikinioberteils hatte sie geöffnet, ihr glänzender Rücken war nackt. Ein kleines weißes Dreieck, von dem sich eine weiße Kordel über ihre Hüfte zog, verdeckte ihre Körpermitte. Von
dieser Kordel abgesehen, zeigte sie nichts als seidig glänzende Haut, von der Schulter bis zu den Füßen.
Stanley tat es beinahe weh, sie so zu sehen.
Früher oder später muss sie sich bewegen, dachte er. Sie wird aufstehen. Und vielleicht nicht auf ihr Oberteil achten. Vielleicht wird sie sich aufrichten, und das Oberteil bleibt auf dem Kissen liegen.
Vielleicht dreht sie sich dann sogar auf den Rücken!
Ja!
Vielleicht! Vielleicht macht sie es!
Und plötzlich fiel Stanley das Fernglas in seinem Schrank ein.
Er konnte dank der alten Kuh kein Foto von Sheila machen, aber sie auf jeden Fall mit seinem Feldstecher aus nächster Nähe betrachten.
Er rannte los, um das Fernglas zu holen.
Er rannte so schnell, dass er drei Kratzer von den Rosendornen davontrug.
Keine vier Minuten später kehrte er mit dem Fernglas in der Hand zurück zur Mauer, zu allem bereit.
Keine Sheila.
Sie war weg. Ihr Buch war weg. Die Plastikflasche mit Sonnenöl war weg.
Sie war aufgestanden. Er hatte es verpasst. Das Fernglas geholt und alles verpasst!
Voller Wut hatte er das Fernglas gegen die Mauer geschlagen. Zu Klump gehauen, in sämtliche Einzelteile zerlegt.
Jetzt erst wurde ihm klar, dass er seinerzeit weit mehr verpasst hatte als die Chance, Sheila vom Liegestuhl aufstehen und dabei womöglich ihre Brüste zu sehen.
Er hatte seine letzte Chance verpasst.
Weil sie jetzt unter dem Geröll lag.
Verschüttet, erschlagen, tot.
Stanley ging rüber zum Liegestuhl. Auf dem grünen Bezug, der an manchen Stellen ausgebleicht und fast weiß war, zeigten sich gelbe und braune Verfärbungen, die den groben Umriss eines Körpers nachzeichneten. Von Sheila abgetropft, dachte er. Und ein bisschen was von Barbara.
Er ging in die Knie und beschnüffelte den Bezug. Der trockene, süßliche Geruch flüsterte ihm vor von langen Sommertagen und Stränden in glühender Hitze, dem Kreischen der Möwen und von endlosen Wellen, die im Sand ausliefen.
Das kommt von ihrem Sonnenöl, wurde ihm klar.
Sonnenöl und Schweiß.
Er drückte sein Gesicht in den Bezug. Mit geschlossenen Augen fühlte er den warmen Stoff gegen seine Lider drücken - und gegen seine Lippen, als er seine Lungen mit ihrem Geruch füllte.
Sheila war ganz nahe bei ihm.
Er leckte den Bezug ab.
Und saugte.
Und hörte eine Stimme.
Die Stimme machte ihn nicht nervös, er hatte keine Angst. Sie war nicht so nahe, als dass er sich hätte beobachtet fühlen müssen.
Er war nicht erwischt worden.
Und er hatte nicht vor, erwischt zu werden. Also hob er den Kopf. Ein feuchter dunkler Fleck zeigte sich an der Stelle, an der sein Mund gewesen war.
Als er sich umblickte, sah er niemanden.
Da war keine Stimme.
Vielleicht hatte er gar keine Stimme gehört. Vielleicht hatte er inmitten des Durcheinanders an Geräuschen, dem Geheule der Alarmanlagen, den Sirenen, den hupenden Autos auf dem Robertson Boulevard, einem Hubschrauber, Krachen und Geknalle wie von Fehlzündungen oder Pistolenschüssen, quietschenden Autobremsen und verschiedenem Gebrülle und Getöse etwas ganz anderes wahrgenommen. Ein wahres Chaos an Geräuschen.
Stanley hörte solche Geräusche jeden Tag, aber nicht so viele, nicht alle auf einmal.
Ein in dieser Nachbarschaft weit verbreitetes Geräusch fehlte allerdings, das wahrscheinlich schlimmste von allen: die Laubbläser. An diesem Morgen war von ihnen nichts zu hören.
All die kleinen Gärtnertrupps müssen sich wegen des großen Bebens freigenommen haben.
Erst vor drei Tagen hatte Mutter verlangt, Stanley solle »etwas unternehmen« gegen die mexikanischen Gärtner, die gegenüber um halb acht aufgetaucht waren und den Morgenfrieden ruiniert hatten. Erst hatten sie die Heckklappe ihres uralten Pick-ups zugedonnert. Dann waren sie mit Rasenmäher und Laubbläser zur Tat geschritten. Das Dröhnen des Laubbläsers hatte Mutter den letzten Rest Beherrschung geraubt.
»Du gehst
Weitere Kostenlose Bücher