Das Insekt
sanft auf die Wange und verließ den Raum. Er reagierte nicht, sagte nicht einmal auf Wiedersehen.
Sie fuhr zur Universität von Los Angeles. Weil die Morgenluft schon sehr warm war, ließ sie alle Fenster ihres Autos herunter. An der Kreuzung Wilshire und Beverly Glen musste sie vor einer roten Ampel halten, und neben ihr kam ein goldenes Mercedes Cabriolet zum Stehen, in dem ein Mann um die fünfzig mit Sonnenbrand auf der Glatze saß.
»Süße«, rief er, »du gefährdest den Straßenverkehr, ist dir das klar?«
Bonnie wandte sich ab und sah in die andere Richtung. Zugegeben, ein Teil Seitenverkleidung ihres Wagens hatte sich gelöst und flatterte im Wind, und beim Gasgeben an Ampeln erzeugte der Electra ein blaue Rauchwolke, aber abgesehen davon war er noch gut in Schuss.
Nachdem der Mann keine Antwort erhalten hatte, lehnte er sich über den Beifahrersitz. »Weil ich nämlich meine Augen nicht von dir lassen kann.«
Die Ampel schaltete auf Grün und Bonnie fuhr mit durchdrehenden Reifen und einer ohrenbetäubenden Fehlzündung an. Der Mercedes hängte sich locker an sie dran. Hin und wieder sah sie im Rückspiegel die zu einem Lächeln gebleckten unnatürlich weißen Zähne des Mannes. Kurz bevor sie den Campus erreichte, bog er in Richtung Bei Air ab und hupte noch einmal zum Abschied. Als er nicht mehr zu sehen war, betrachtete sich Bonnie im Rückspiegel. Und die Frau, die sie da sah, war ihr so fremd wie ihr eigener Sohn.
Dr. Jacobsons Labor war eine aus Zedernholz errichtete Baracke auf der Rückseite der eigentlichen Naturwissenschaftlichen Fakultät. Bonnie hielt direkt vor dem Labor. Als sie ausstieg, hörte sie das traurige Gurren einer Taube im Baum über ihr. An der Tür hing ein kleines Schild mit der Aufschrift »Entomologisches Institut – Bitte Türen immer geschlossen halten«.
Durch drei dieser hermetischen Stahltüren, die alle krachend hinter ihr ins Schloss fielen, musste Bonnie durch, bevor sie das Labor erreichte. Drinnen war es schwül und der erstickende Dunst verrottender Pflanzen lag in der Luft. An den Wänden standen Reihen von Terrarien mit allen möglichen Insekten: Stab- und Wanderheuschrecken, Gottesanbeterinnen, fette Maden. In anderen Vitrinen sah sie tote Schmetterlinge und Falter, Diagramme und Fotos an den Wänden erläuterten Arten und Familien und zeigten Details von Fliegen und Larven.
An einem Tisch in der Mitte des Raums saß eine junge Frau mit langen dunklen Haaren und einer runden Brille. Offenbar konzentrierte sie sich darauf, etwas mit einer Pipette in Kartons zu füllen. Bonnie ging ein paar Schritte auf den Tisch zu, bis sie auf den Boden des Kartons sehen konnte. Dort saß die größte und haarigste Spinne, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sie bebte, als würde sie zum tödlichen Sprung ansetzen. »Wie heißt die?«, fragte Bonnie und rümpfte die Nase.
»Chelsea«, sagte die junge Frau, ohne aufzublicken.
»Ungewöhnlicher Name für eine Spinne, oder?«
»Na ja, ist persönlicher als Aponopelma.«
»Ist Dr. Jacobson da? Wir hatten uns um halb elf verabredet, aber ich bin ein bisschen spät dran.«
»Er ist da hinten. Gehen Sie einfach durch.«
Dr. Howard Jacobson saß in einem sonnendurchfluteten Büro vor seinem Computerbildschirm und hackte auf die Tastatur ein. Er war ein großer, hagerer Mann mit hervorspringenden blauen Augen und buschigem schwarzem Haar, und als er Bonnie erblickte, hüpfte er von seinem Stuhl wie ein Springteufel. »Bonnie! Komm rein! Das ist ja eine Freude! Wie wär’s mit Kaffee?«
»Gern. Ich könnte jetzt einen brauchen.«
»Wie geht’s denn meiner Lieblingsreinemachefrau so? Ich glaube, wir haben uns seit dieser Axtmordgeschichte nicht mehr gesehen. Mein Gott, all das Blut! Und die Eingeweide! Uuähh! Du kannst so was einfach aufwischen, aber mir dreht’s schon den Magen um, wenn ich nur daran denke.«
Bonnie räumte einen Stuhl von Papier frei, setzte sich und legte die Hand an die Stirn.
»Geht’s dir auch gut?«, fragte Howard.
»Bis auf ein paar Probleme zu Hause ist alles okay. Mein Sohn liegt gerade im Krankenhaus. Nichts Lebensbedrohliches, aber mir reicht’s trotzdem.«
»Schnupfen?«
»Schlägerei.«
»Zu blöd. Aber so sind Jungs nun mal, oder? Ich hab mich zu meiner Zeit immer mit irgend)emandem geprügelt. Für die anderen Kinder war ich nur >Käfer-Kid<, und am liebsten haben die sich auf meinen Kopf gesetzt und mir ins Ohr gefurzt. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch was
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