Das Internat
eine dicke Scheibe Käse. Köstlich. Der Wein hatte einen Hauch von Zimt, und der Cheddar war weich und überraschend scharf.
"Das sollte ich öfter tun", murmelte sie mit halb geschlossenen Lidern, während sie den Kelch in beide Hände nahm und nippte. Vielleicht war es dumm, Wein zu trinken, wenn sie schon so müde war, aber es war himmlisch …
Sie erinnerte sich nicht mehr daran, das Glas abgesetzt zu haben. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, den Kopf auf das Kissen gelegt zu haben. Doch beides musste sie getan haben. Denn Sekunden nach dem ersten Schluck hatte Mattie die Hände im Schoß gefaltet und war eingeschlafen.
Mattie fragte sich, was sie auf einer Beerdigungsfeier machte. Sie hörte die Trauermusik, ein so eindringliches Klagelied, das Mattie jeden Schritt noch schwerer machte. Die Gesichter der anderen konnte sie nicht erkennen. Sie trugen schwarze Umhänge mit Kapuzen, alle außer ihr. Die Träger hatten den Sarg am Altar abgesetzt und schoben den Deckel zur Seite. Als die Trauernden daran vorbeigingen, um Abschied zu nehmen, überlegte Mattie, wer wohl in dem Sarg lag und warum die Kirche so dunkel war.
Miss Rowe, fiel ihr ein, vielleicht weil sie auf den Zeichnungen so traurig ausgesehen hatte. Die Musik wurde lauter und nahm einen seltsam disharmonischen Klang an. Plötzlich standen überall Kerzen, als schwebten winzige kleine Lichter durch den Raum.
Mattie hörte, wie jemand flüsternd fragte, wer der Verstorbene sei. Eine andere Stimme antwortete leise: "Es ist der Broud-Junge."
William Broud. Jetzt verstand Mattie. Sie war nicht zu seiner Beerdigung gegangen, und dies war eine Chance zu erklären, dass sie ihm nie etwas Böses gewollt hatte. Um sich zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten.
In der Erwartung, der furchterregenden Miene des Hausmeisters entgegenzutreten, näherte Mattie sich dem Sarg und sah hinein. Doch das Gesicht, das sie erblickte, war schön, dunkel und ruhig.
Nicht William. Jameson. Auf seiner Stirn war noch die Schnittwunde, die sie ihm mit dem Armband versehentlich zugefügt hatte. Irgendwie wusste sie, dass sie die Schuld an diesem Unheil trug. Genauso wie sie für alles Schlimme in ihrem Leben verantwortlich war – dass ihr Vater sie verlassen hatte, die Selbsterniedrigung ihrer Mutter, Ivys Tod, der von Miss Rowe, der der Brouds.
"Nein!" Mattie stieß flüsternd das Wort aus, das ihr Innerstes zerschnitt. Verzweifelt versuchte sie, ihn zu wecken. Als sie sein Gesicht berührte, verwandelte er sich in Jimmy Broud, den schüchternen Lieferjungen, der nur wissen wollte, wer sie war. Jetzt würde er es nie erfahren.
Tränen rannen ihre Wangen hinunter.
Hinter ihr begannen die Trauernden zu stöhnen und zu schluchzen. Es klang wie gequälte Ausrufe. Mattie wandte sich zu ihnen um, da standen alle von den Bänken auf und zogen die Kapuzen vom Kopf. Die ganze Kirche war gefüllt von Schülerinnen der Rowe-Akademie, und in ihren Augen spiegelte sich keine Trauer. Es war Hass.
36. KAPITEL
M attie rang nach Atem und wachte schließlich dadurch auf. Verwirrt öffnete sie die Augen und blinzelte durch etwas hindurch, das Tränen gewesen sein konnten. Einige Sekunden lang sah Mattie nichts als dunstige Helligkeit, so als hätte jemand eine Schneekugel geschüttelt und wieder hingestellt. Alles schwebte und glitzerte. Allmählich nahm das Zimmer wieder Konturen an, und Mattie wusste, wo sie war.
In David Grace' Villa. Einen Kontinent von ihrem Alltag entfernt, wo die Menschen entweder versuchten, sie zu töten, sie bedrohten oder ruinieren wollten.
Um den Kopf klar zu bekommen, setzte sie sich auf. Wenn sie nicht verrückt war, fühlte sie sich zumindest so. Sie hatte Tränen in den Augen, ihre Brust fühlte sich an wie zerquetscht. Es war nur ein Traum gewesen, aber das tröstete Mattie nur wenig. Die Gefühle waren schmerzhaft realistisch gewesen, und sie hatte keine Ahnung, was dieser Traum bedeutete. Betrauerte sie den Verlust eines Kindheitswunsches? War Jimmy Broud für sie gestorben und verloren? Oder wollte ihr das Unterbewusstsein sagen, dass Jameson in Gefahr schwebte?
Vielleicht wünschte sie, er wäre tot. Beide, der Lieferjunge und der erpresserische Erwachsene, der er geworden war. Das würde Sinn ergeben. Beide hatten ihr das Leben zur Hölle gemacht, wenn man so wollte.
Tiefgoldene Lichtstrahlen fielen durch die Fensterläden und kündeten vom Spätnachmittag – oder vom frühen Abend. Einige Stunden musste Mattie geschlafen haben. Sie
Weitere Kostenlose Bücher