Das Internat
setzte sich langsam auf, erhob sich und suchte ihre Tasche.
Das Handy fand Mattie in der Seitentasche. In den Staaten war es vermutlich mitten in der Nacht. Dennoch musste Mattie einen letzten Versuch unternehmen, sich mit Jameson zu einigen. Er verlangte Unmögliches von ihr, und er könnte all ihre Pläne und Hoffnungen so leicht zunichte machen.
Ihr Telefon sprang automatisch auf die gegenwärtige Zeitzone um. In Italien war es halb sieben am Abend. Davon ausgehend, hätte Mattie ausrechnen können, wie spät es in Kalifornien war. Aber sie machte sich die Mühe nicht. Es kostete sie schon genug Konzentration, sich an die richtigen Ziffern zu erinnern. Minuten vergingen, bis die Verbindung zustande kam, doch schließlich erreichte sie Jamesons Mailbox. Sie wollte mit ihm reden, statt einem weiblichen Androiden zuzuhören, der darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Immerhin hatte Mattie die richtige Nummer gewählt.
"Jameson, hier ist noch mal Mattie", sagte sie. "Ich musste wegen eines Notfalls nach Europa, aber in ein paar Tagen bin ich zurück. Jameson, ich brauche mehr Zeit. Ich bitte dich, zu warten, bis ich zurück bin und wir darüber reden können."
Ein Piepsen signalisierte, dass sie eine neue Mitteilung empfangen hatte. Eilig beendete Mattie den Anruf bei Jameson und rief ihre Mailbox ab, überrascht, Breezes Stimme zu hören. Sie und ihr Typ vom Militärgeheimdienst hatten begonnen, Recherchen über David Grace anzustellen, und bereits etwas in Erfahrung gebracht.
"David Grace' Frau, Cynthia, starb vor über zwanzig Jahren bei der Geburt eines Kindes", berichtete Breeze. "Er hat nie wieder geheiratet, aber hör dir das an: Rowe wurde sechs Monate nach dem Tod seiner Frau ermordet. Cynthia Grace war kurz vor ihrem Tod in einer Klinik in der Nähe von Ravello, nicht weit von der Villa entfernt, in der du dich gerade aufhältst. Dort sind sie
und
das Baby gestorben. Vielleicht kannst du ein bisschen herumschnüffeln, solange du da bist."
Breeze nannte Cynthia Grace' Mädchennamen, unter dem die Klinik sie registriert hatte und das Todesdatum. Dann verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, sich wieder zu melden, wenn sie etwas Neues erführe.
Die Direktorin und David Grace' Frau starben innerhalb von sechs Monaten? Mattie rechnete von Miss Rowes Tod im Februar 1982 zurück zum Sommer des Jahres davor. War es Zufall, dass Miss Rowe in den Monaten vor ihrem Tod begonnen hatte, einen aufgelösten Brief an Grace zu schreiben, in dem von einem wertvollen Geschenk und einem tragischen Verlust die Rede war? Mattie fragte sich, ob möglicherweise beide Frauen ihre Babys verloren hatten.
Jetzt hatte sie keine Zeit, diese Überlegungen zu Ende zu führen. Aber sie hatte die feste Absicht, dem nachzugehen. Wenn es möglich wäre, würde sie der Klinik einen persönlichen Besuch abstatten. Zuvor musste sie auf der Terrasse eine Verabredung mit ihrem Gastgeber wahrnehmen.
Zwanzig Minuten später betrat Mattie in einem schwarzen Sommerkleid und mit frisch gewaschenem Haar den Balkon, der dem Wohnzimmer gegenüberlag. Es war der mittlere dreier verbundener Balkone, die sich über die gesamte Länge der Villa zogen. Wenn Mattie sich richtig an die Aufteilung des Hauses erinnerte, waren die anderen vor dem Schlafzimmer des Hausherrn und vor dem Esszimmer angebracht.
Die Aussicht war atemberaubend. Vom Balkon aus konnte man einen perfekt gepflegten Rasen mit kunstvoll beschnittenen Sträuchern bewundern. Mattie sah einen Pool funkeln, der von Marmorsäulen flankiert wurde. Es erinnerte sie an römische Ruinen. Dahinter konnte man die rauen, dunstverhangenen Klippen der Amalfiküste und den Golf von Salerno erblicken. Seine rosafarbenen Schattierungen verdankte der Dunst der untergehenden Sonne.
Ihre Sandaletten klackten auf den Marmorböden. Aber falls Grace sie kommen hörte, gab er dies nicht zu erkennen. Er saß an einem großen mit Patina überzogenen Eisentisch und sah auf das Meer hinaus. Das bunte Seidenhemd, die sandfarbenen Hosen und die geflochtenen Sandalen entsprachen dem lässigen Chic eines reichen Europäers. Die Melancholie, die Mattie schon zuvor aufgefallen war, hatte sich tief in sein Gesicht eingegraben.
Mattie war sich sicher, dass es etwas mit einer Frau zu tun hatte. Mit Miss Rowe vielleicht, oder mit seiner Ehefrau. War sie die wunderschöne, von Schatten umgebene Figur, die er immer wieder malte? Oder war es Millicent Rowe – das würde erklären, warum das Gesicht Mattie vertraut
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