Das Internat
frei gelassen wurden und die Schuldigen ins Gefängnis kamen. Wenn sich Jameson auf die Schattenseiten eines anderen konzentrierte, musste er sich nicht mit dem eigenen Leben beschäftigen.
Und jetzt lag er neben ihr. Was bedeutete das?
"Briefschlitze kann man reparieren." Sein Atem ließ eine ihrer Haarsträhnen hochfliegen. "Ich werde mich drum kümmern." Damit meinte er nicht nur den Briefschlitz, hatte jedoch nur eine vage Vorstellung davon, was er Mattie zusagte. Ich handle instinktiv, dachte er. Es war mehr ein Test als ein Versprechen. Als halte er einen Finger in die Luft, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind blies.
Sie kuschelte sich an seine Brust. "Was haben wir getan?"
Die Frage entlockte Jameson ein Lachen. "Weißt du es nicht mehr? Wir könnten es wiederholen, wenn es deiner Erinnerung auf die Sprünge hilft."
Sie sah ihn an, als sei sie zu allem bereit – und er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, wäre der Blick aus ihren blauen Augen nicht umwölkt gewesen. Nackt und in eine Decke gewickelt, erinnerte Mattie ihn an das verletzte Mädchen auf der Krankenstation, das trotz seiner Schmerzen friedlich geschlafen hatte.
Wie sie zu diesen Narben gekommen war, hatte er damals nicht geahnt.
"Mattie", sagte er, "die Bänder, die ich mir angesehen habe, haben mir einen Eindruck davon vermittelt, was ihr in Rowe durchgemacht habt, du und Ivy. Wenn du darüber reden willst …"
Ihre Wachsamkeit erinnerte ihn ebenfalls an das geschundene Mädchen von früher. Sie hatte Geheimnisse. Jeder trug welche mit sich herum, aber ihm wurde mit einem Mal klar, dass ihre ein Hindernis für alles darstellten, das möglicherweise zwischen ihnen war. Dass er an etwas Besonderes und Einzigartiges zwischen Mattie und ihm glaubte, hatte sicher der gute Sex ausgelöst.
"Ich schätze, du hast doch etwas übrig für Männer."
Sie lachte laut. "Ich hoffe, das wirft mich nicht aus dem Rennen als erotischste Richterin der Stadt."
"Gott, Mattie", sagte er mit völligem Ernst, "du bist unglaublich attraktiv." Er berührte ihr Haar, ließ die dunklen Strähnen durch seine Finger gleiten. Diese Geste machte sie neugierig. Aufmerksam beobachtete sie sein Gesicht.
"Lief da jemals was zwischen Ivy und dir?", fragte sie ihn. "Ich hatte immer den Eindruck, dass du von ihr hingerissen warst."
Jameson winkte ab. "Trotz meiner vergangenen Fehltritte oder vielleicht wegen ihnen fühlte ich mich schon immer zu Not leidenden jungen Damen hingezogen. Ivy war damals Not leidend. Und du – du warst einfach schnell und fies."
"Oh, vielen Dank." Offenbar in Gedanken versunken, drückte Mattie den Handrücken an ihre Lippen. Das war nie ein gutes Zeichen, soweit Jameson wusste.
"Also bin ich jetzt diejenige, die in einer Notsituation steckt?", fragte sie.
Ihre Fingernägel waren ihm vorher nicht aufgefallen. Einige von ihnen waren stark abgekaut. "Es sieht auf jeden Fall so aus", sagte er und wies auf ihre Hände.
Ihr Gesicht wurde tiefrot. "Oh, das ist nichts", sagte sie und versuchte, die Arme hinter dem Rücken zu verstecken.
"Du knabberst an den Fingernägeln. Ich sammle Schund. Jeder macht etwas Seltsames. Es macht einen menschlicher – und schöner, finde ich."
Ihre Augen nahmen einen ungläubigen Ausdruck an. Das kaufte sie ihm nie im Leben ab. Jameson war sich nicht einmal sicher, dass er es glaubte. Aber er zweifelte nicht daran, dass sich bisher niemand ihre Narben angesehen und Mattie gesagt hatte, dass sie wunderschön sei. Dass überhaupt jemand viel von dem erblickt hatte, was sich unter der schwarzen Richterrobe verbarg, glaubte Jameson kaum.
"Hast du dich eigentlich jemals gefragt, wie sie gestorben ist?", fragte er.
Ihr Gesicht wurde aschgrau, als sie die Worte herausbrachte: "Miss Rowe?"
"Nein, Ivy."
"Oh … ja, natürlich. Ich frage mich das, seit es passiert ist. Es war der Herzwein. Ich glaube, sie hat vielleicht aus Versehen eine Überdosis erwischt."
Seine Neugier konnte Jameson kaum verbergen. "Herzwein ist ein Gift. Wie konnte das ein Versehen sein?"
"Tja, so bizarr es auch klingt, wir alle vier haben es genommen, um dagegen immun zu werden, damit Miss Rowe uns nicht vergiften konnte. Sie hatte uns die Wirkung von Herzwein einmal in ihrem Apartment vorgeführt und dabei vor unseren Augen ihren Vogel getötet."
Jameson fluchte leise. Doch wenigstens ergaben gewisse Dinge jetzt mehr Sinn. Einmal hatte er die vier auf dem Campus gesehen, wie sie sich in einer Nische versteckten und
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