Das Internat
einem bestimmten Grund passierte, wer könnte ihm dann die letzten dreiundzwanzig Jahre erklären? Ein unschuldiger Mann, der in einem verfaulten, stinkenden Loch gesessen und auf seine Hinrichtung gewartet hatte?
Die ganze Zeit hatte er mit der grausamen Wahrheit der eigenen Unschuld gelebt, und keinen hatte es interessiert. Jetzt würden es alle wissen wollen. Angst hatte ihn die ganze Zeit schweigen lassen. Es hatte Todesdrohungen gegeben, anonyme Warnungen, er solle den Mund halten, aber um sein Leben hatte sich Broud nicht gesorgt. Ihnen war klar gewesen, dass das nicht funktioniert hätte. Sie hatten gedroht, den einzigen Menschen zu töten, der ihm geblieben war.
Zu niemandem hatte er ein Wort gesagt, nicht einmal den Anwälten, die die Aussetzung seiner Hinrichtung beantragt hatten. Er hätte ihnen nichts erzählen können. Journalisten wollten Interviews mit ihm machen, Broud hatte jedes Mal abgelehnt. Er wusste nicht, mit wem er reden sollte, aber er hatte seine Unterlagen jemandem hinterlassen, der das für ihn erledigen konnte. Es stand alles auf den Papierfetzen, die er in seiner Zelle bekritzelt und in den tiefen Rissen des Zements versteckt hatte.
Er schloss seine Augen und fragte sich, ob er jemals etwas in seinem Leben getan hatte, das gut war. Darüber wollte er nicht nachdenken. Er wollte nicht, dass sein Leben ihm etwas bedeutete. Es machte ihn traurig. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er je etwas aus Liebe oder Mitleid getan hätte. Einem jungen Mädchen hatte er mal geholfen, aber das hätte auch jeder andere getan. Und er hatte all diese Jahre geschwiegen, um jemanden zu schützen. Vielleicht war das der Grund, der ihn krank machte, der dieses furchtbare Brennen in seiner Brust und Kehle anhalten ließ. Vielleicht war das der Grund, warum er lebte. Um zu schweigen.
Aber er konnte das nicht länger. Er musste es endlich jemandem erzählen, um sich zu erleichtern. Wenn er deswegen starb – es wäre kein großer Verlust. Selbst wenn er als alter Mann einen stillen Tod erfahren würde, bis zum letzten Atemzug würde er niemals mehr woanders schlafen können als auf einem schmutzigen Toilettenfußboden.
10. KAPITEL
M attie hievte zwei prall gefüllte Tüten mit Lebensmitteln auf die Arme und versuchte, gleichzeitig den Kofferraum ihres Autos mit dem Ellbogen zu schließen. Sie würde sich bald ein zuverlässigeres Auto anschaffen. Ihr alter Kleinwagen hatte seine besten Tage hinter sich. Ein stärkerer Druck mit dem Ellbogen und ein zusätzlicher Stoß mit der Hüfte brachten schließlich den gewünschten Erfolg.
Gestern Abend hatte ihr Jaydee den Entwurf des Briefes gemailt, der das Urteil im Fall Langston infrage stellte. Mattie hatte an ihrem Laptop zu Hause ein paar Anmerkungen hinzugefügt und den Brief zurückgeschickt. Wenn Jaydee von ihrer allgemeinen Bemerkung über Missbrauch überrascht war, ließ er sich nichts anmerken. Heute Morgen hatte sie ein paar Anrufe wegen Langston gemacht, einschließlich zweier Höflichkeitsanrufe bei den Berufungsanwälten, die sie damit betrauen wollte. Sie zweifelte daran, dass sie ihr deswegen Blumen schicken würden, aber beide hatten sich vorsichtig optimistisch in Bezug auf Langstons Aussicht auf eine Berufung geäußert, was Mattie ermutigte.
In der Zwischenzeit hatte sie nichts von Jane oder Breeze gehört, obwohl sie beiden sogar eine weitere Nachricht hinterlassen hatte. Weder auf dem Anrufbeantworter noch über das Internet hatten sie reagiert. Entweder waren sie sehr beschäftigt oder weniger besorgt, hatte sich Mattie überlegt. Vielleicht wussten die Freundinnen auch noch nichts von den Recherchen des Buchautors. Am späten Vormittag entschied Mattie, etwas Konstruktiveres zu tun, als sich zu grämen, und erledigte einige Besorgungen.
Die Tüten unter die Arme geklemmt, stieg sie die Treppenstufen zu dem Strandhaus in Sausalito hinauf, das sie sich gekauft hatte, als sie nach Nordkalifornien zurückgekehrt war und das erste Richteramt antrat. Das Haus war klein, rustikal und ruhig, also perfekt für Mattie, besonders nachdem sie von dieser unerwarteten Ernennung so überwältigt worden war.
Irgendwann hatte sie erfahren, dass Janes Ehemann, der damals der stellvertretende Senator in Kalifornien war, sich für ihre Kandidatur eingesetzt hatte. Auch der amtierende Senator hatte sich für sie stark gemacht, und der Ernennungsprozess war ungewöhnlich reibungslos verlaufen. Aber Mattie hatte sich gefühlt, als trüge ein
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