Das Internat
Fall weiterzukommen", sprach er seine Gedanken laut aus. Die Fotos aus den Jahrbüchern hatten Erinnerungen in ihm geweckt, besonders an die schmerzhaft schöne Ivy, die tot in ihrem Zimmer aufgefunden worden war, einen Monat vor dem Mord an der Direktorin. Jameson war damals achtzehn gewesen und hatte als Nebenjob Vorräte ans Internat ausgeliefert.
Die Rowe-Akademie lag auf seiner Route, und er hielt dort immer an, egal ob er musste oder nicht. Er war heimlich in Ivy verliebt gewesen, ihr Tod hatte ihn fassungslos gemacht. Es war als Unfall dargestellt worden. Aber Jameson fand es sehr verdächtig, dass beide Tode sich so kurz nacheinander ereignet hatten. Genauso wie das Gift, das Ivy getötet hatte: Herzwein, eine blutrote Substanz, die aus tropischen Beeren austrat, wenn man sie zerquetschte. Man hatte es in ihrem Verdauungssystem gefunden. Mit der Zeit verlor die gärende Frucht Farbe und Geruch, wurde aber hochgiftig, betäubte die Hirnrinde, drang in die höheren Zentren des Gehirns vor und lähmte die lebenswichtigen Organe, angefangen bei Herz und Lunge.
Aus verschiedenen Quellen hatte Jameson erfahren, dass Millicent Rowe zu kosmetischen Zwecken mit Herzwein experimentiert hatte, und auch in ihrem Körper war es bei der Autopsie gefunden worden, allerdings nicht in einer tödlichen Dosis. Sie war mit ihrem eigenen Kissen erstickt worden.
Die Luft hatte seine nackte Haut abgekühlt, als Jameson seinen Lieblingsraum betrat: die Bibliothek. Es war eine Erweiterung seines Wohnzimmers, und an zwei Wänden reichten Regale aus Teakholz vom Boden bis zur Decke. Die dritte Wand war lediglich eine von der Decke hängende Trennwand, auf der seine einzigartige Sammlung von Zeitschriftentiteln prangte.
Die Putzfrau musste heute da gewesen sein. Ein Bücherstapel war umsortiert worden, und der Rest war aufgeräumt, abgesehen von der neuen Unordnung, die er gerade hinterlassen hatte. Roter Tod oder nicht, es tat gut, zu Hause zu sein, auch wenn seins ein "trashiger, Film-noir-inspirierter Bunker" war, wie das
Golden Gate Magazine
einmal in einem Artikel geschrieben hatte.
Kaltblütige Haie, diese Zeitungsreporter. Jameson war sein ganzes erwachsenes Leben über Journalist gewesen. Er erkannte die falschen Hunde sofort. Der Artikel hatte ihn als dunkel und elegant bezeichnet, Beschreibungen, die häufig in der Berichterstattung wieder aufgenommen wurden. Jameson wehrte sich nicht dagegen, weil es letztlich Werbung für seine Bücher war – aber niemand hätte ihn noch elegant genannt, wenn bekannt wäre, was er innerhalb von zehn Sekunden in einem Hotelzimmer anrichten konnte.
Er drückte auf einen Schalter, und die Wand gegenüber erhellte sich, angestrahlt von einer Reihe Spotlights. Vielleicht lächelte er aus Stolz, wenn er den Blick über seine wertvolle Sammlung schweifen ließ. Vielleicht war es das, was den Reporter gegen ihn aufgebracht hatte. Jameson hatte Titelseiten von Groschenheften wie
The Detective, True Crime
und
True Police Yearbook
auf Postergröße ziehen und rahmen lassen. Darauf abgebildet waren meistens junge Damen in Not. In großer Not.
Jameson war sich nicht sicher, ob er lieber der Kerl sein wollte, der die Damen fesselt, oder der, der die Fesseln löst. Er fand beide Vorstellungen faszinierend. Schon als Kind hatte er sich in Krimis vertieft, und sie waren vermutlich verantwortlich für seine Berufswahl. Davon abgesehen, hatte er keine Entschuldigung für seinen Kunstgeschmack. Er liebte die Dinger … mit einer Ausnahme.
Der Titel seiner Ausgabe der
Detective Casebook Chronicles
zeigte eine spärlich bekleidete Frau in Fesseln; so weit war sie den anderen Heften nicht unähnlich, außer dass die Fesseln in diesem Fall lebensbedrohlich waren. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit einem Strick zusammengebunden, und ein weiteres Stück war an ihren gefesselten Fußgelenken angebracht und so um ihren Hals geschlungen, dass es ihr die Luft abschnüren würde, sollte sie hinfallen.
Das wurde Jameson gerade auf groteske Art bewusst, aber er hatte nicht darüber nachgedacht, als er das Heft gekauft hatte. Er war zwölf gewesen, zu jung, um es zu begreifen. Der Verkäufer hatte ihm gesagt, dass dies die erste und einzige Ausgabe des Magazins sei, ein Sammlerobjekt. Aber das Cover hatte ihm Angst gemacht und später, als er wusste, was Fesseln anrichten konnten, hatte er sich vorgenommen, das Heft aus der Sammlung zu entfernen. Er erinnerte sich nicht mehr, warum er es nicht getan hatte. Aber
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