Das Internat
Gewöhnlich legte ihre Assistentin eine Kopie der anstehenden Gerichtsverhandlungen in den Eingangskorb, zusammen mit einer Auflistung der Fälle, in denen Mattie die Anhörung leiten musste. Aber weil sie während der letzten Wochen am Bezirksgericht gearbeitet hatte, fehlten die Unterlagen jetzt.
"Ich weiß nicht, wie mein Terminplan aussieht", sagte sie. "Kannst du mir eine Kopie des Gerichtsplans besorgen?"
"Sag nichts. Ich habe schon nachgesehen. Du sollst zwei Fälle von sexueller Diskriminierung übernehmen, Gott sei Dank. Ich lebe für diese Fälle, und der erste wird ein ziemliches Theater werden. Ich habe es für dich bis morgen fertig vorbereitet. Es gibt außerdem einen Fall zu einer Verfassungsänderung, der völlig aberwitzig ist, aber auf mich hört ja keiner."
Mattie ging zum Fenster. Sie wusste, was zu tun sein würde. Trotzdem war sie immer noch hin- und hergerissen. "Jaydee, ich muss alle Termine streichen lassen. Ein anderer Richter muss die Fälle übernehmen."
"Welche Fälle konkret?"
"Alle."
"Was?"
Sie nickte. "Ich nehme mir frei."
"Mattie, du machst nie Urlaub. Seit ich dich kenne, warst du jeden einzelnen Tag im Gericht. Was ist los?"
Da das Telefon klingelte, bedeutete Mattie ihm, zu gehen, mit dem Versprechen, später alles zu erklären. "Ja, Michelle?"
Die lebhafte Stimme ihrer Assistentin drang durch das Telefon. "Euer Ehren, eine Jane Dunbar möchte mit Ihnen sprechen. Sie wollte mir nicht sagen, worum es geht."
"Das ist in Ordnung, Michelle, stell sie durch." Jane benutzte ihren Mädchennamen. Alles andere hätte in dieser Situation wie ein Schuss mit einer Leuchtpistole gewirkt.
Mattie hörte ein mehrfaches Klicken, aber niemand sprach. Das tonlose Rauschen klang seltsam. "Jane?"
"Mattie, er ist tot. William Broud wurde ermordet."
Das letzte Wort ließ Mattie schaudern. Nichts von dem, was Jameson Cross gesagt hatte, erschütterte sie so sehr wie dieser Satz. Die Nachricht von Jane zu hören, ließ sie real erscheinen. Es war die Wahrheit.
"Von wo aus rufst du an?", fragte Mattie.
"Von meinem Mobiltelefon. Ich bin auf dem Weg zurück ins Weiße Haus. Ich hatte einen … Arzttermin."
"Woher weißt du das mit Broud?"
"Es war in den Nachrichten." Janes Stimme wurde zu einem Flüstern.
"In Washington, D.C.? Ist es eine landesweite Meldung?"
"Nein, lokal. Es gibt einen Fernseher in diesem Auto, und man bekommt Sender aus der Bay Area herein. Im Büro habe ich eine spezielle Satellitenleitung. Keiner denkt sich etwas dabei. Ich komme ja aus Kalifornien."
Als Jane fertig war, hakte Mattie nach. "Haben sie wirklich gesagt, dass er ermordet worden ist, Jane? Haben sie genau das gesagt?"
"Ja, sicher, natürlich. Meinst du etwa, das wurde er nicht?"
"Ich frage dich nur, ob die Medien das verbreiten." Jameson hatte ihr nicht gesagt, wie Broud gestorben war, und sie hatte nicht danach gefragt. Vielleicht bluffte er, in der Hoffnung, sie so zu ängstigen, dass sie gestehen würde.
Jane zögerte. "Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher. Sie haben gesagt, dass er in San Rafael in einem Hotel tot aufgefunden wurde, und ich habe es einfach angenommen."
"Lass uns nichts annehmen, okay, besonders nicht das Schlimmste. Lass mich herausfinden, was passiert ist, und dann rufe ich dich wieder an."
"Mattie, was ist mit Jameson Cross? Hast du bei ihm schon irgendwas erreicht? Gott, wenn er das hört!"
Er hat es bereits gehört, Jane.
"Was ist mit Breeze?", fragte Jane. "Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht ans Telefon. Ich habe es auch bei dir zu Hause versucht. Sie ist nicht da."
Mattie musste nachdenken. "Sie sprach davon, sich einen Wagen zu mieten und nach San Francisco zu fahren, wahrscheinlich zum Shoppen. Ich werde sie finden. In der Zwischenzeit keine Panik. Keiner kann beweisen, dass wir damit irgendetwas zu tun haben."
Eine Lüge, Mattie, vielleicht sogar eine ganz schlimme Lüge.
"Ich muss meine Termine streichen lassen, und dann kümmere ich mich darum."
"Mattie, warte …"
Janes scharfer Protest blieb Mattie im Ohr, sogar nachdem sie aufgelegt hatte. Trotzdem konnte sie jetzt nicht mit Fragen umgehen. Sie hatte keine Antworten. Was sie hatte, war ein Anruf, der zu erledigen war, und ein Gebet, das gesprochen werden musste, eine stille Anrufung des Himmels mit der Bitte um Erlösung. Und wenn nichts davon helfen würde, gäbe es immer noch die Augenbinde.
20. KAPITEL
"A lso sagen Sie mir, Frau Wahrsagerin, gibt es ein Hotel 'Vier Jahreszeiten' in
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